"Am sechsten Tag nach dem Erdbeben schwindet die Hoffnung – Zehntausende Menschen liegen noch unter den Trümmern", meldet Het Laatste Nieuws zur Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet. "Türkische Moscheen sammeln bei Freitagsgebet 350.000 Euro", schreibt Het Belang van Limburg mit Bezug auf die islamischen Gebetshäuser der Provinz Limburg. "Belgien sammelt für Syrien und die Türkei", so auch De Morgen auf Seite eins.
Het Laatste Nieuws ist in seinem Leitartikel voll des Lobes über die zahlreichen kleinen und großen Hilfsaktionen für die Opfer des großen Erdbebens: Natürlich kommen einige der Initiativen von der türkischen Gemeinschaft Belgiens, aber helfen tun auch viele andere Menschen und Organisationen. Und auch wenn es politisch zwischen der Türkei Erdogans und dem Rest Europas oft nicht läuft, ist es doch schön zu sehen, dass das der Solidarität zwischen Menschen nicht im Weg steht. Man fühlt sich an die schweren Überschwemmungen in der Wallonie erinnert, als gerade aus Flandern besonders viel Hilfe kam. Noch auffälliger ist die große Unterstützung Griechenlands für die Türkei, immerhin sind die beiden Länder nach wie vor politische Todfeinde. Man kann nur hoffen, dass wir uns auch später noch daran erinnern werden: Nachbarn bleiben Nachbarn, Menschen bleiben Menschen. Eigentlich bräuchte man doch keine Katastrophen, um sich das klarzumachen, meint Het Laatste Nieuws.
Eine verantwortungsbewusste Flüchtlingspolitik führen
Das häufigste Thema in den Kommentaren der Zeitungen sind aber die europäische Migrationspolitik und die diesbezüglichen Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs auf dem jüngsten EU-Sondergipfel. Die Abschlusserklärung wurde sprachlich so austariert, um Befürwortern und Gegnern entgegenzukommen, schreibt das GrenzEcho. Begriffe wie "Mauer" oder "Zaun" tauchen nicht auf. Die Rede ist von "Grenzschutzkapazitäten und -infrastruktur", die mit Mitteln der EU finanziert werden sollen. Alle können sich angesichts solcher rhetorischer Spitzfindigkeiten mit dem Ziel abfinden, dass Außengrenzen besser geschützt und Migranten konsequenter abgeschoben werden sollen. Sicher ist, dass die EU ihre Schlagkraft in der Flüchtlingspolitik endlich unter Beweis stellen muss, um nicht weiteren sozialen Zündstoff zu produzieren. Das heißt: Hilfe für diejenigen, die verfolgt werden, aber auch konsequente Ausweisung abgelehnter Antragsteller und mehr Druck auf Herkunftsstaaten, die keine Zusammenarbeit wollen. Das ist keine rechte, sondern eine verantwortungsbewusste Politik, findet das GrenzEcho.
Es gibt sehr wohl Alternativen
Auch wenn das Wort "Mauer" nicht explizit erwähnt wird, ist dennoch klar, dass hier ein Tabu gefallen ist, hält Het Nieuwsblad fest. Die ganze Hysterie über sogenannte "Mauern" ist ohnehin scheinheilig. Kommt sie davon, dass Gestalten wie Trump und Orban "die Mauer" zu einem politischen Symbol erhoben haben? Und wo liegt denn tatsächlich der Unterschied zu den schon bestehenden Maßnahmen, wie bewaffneten Beamten, Spürhunden und Überwachungskameras? Ist ein knurrender Hund etwa humaner als eine hohe Mauer? Es ist sehr leicht, sich über so eine Mauer an der Ostgrenze empört zu geben. Aber was ist denn mit den ganzen Zäunen im Westen, etwa rund um Calais? Und vergessen wir nicht allzu gerne, dass der große Flüchtlingsstrom von 2015-2016 von Orban und Co. gestoppt wurde, die mit harter Hand die sogenannte Balkanroute dichtmachten? Und wenn wir schon dabei sind, Tabus über Bord zu werfen, sollten wir auch über mehr Möglichkeiten zur legalen Migration sprechen. Denn auch wenn die Politik das aus Angst vor dem Wähler nicht aussprechen will: Migration an sich ist nicht negativ. Unser Arbeitsmarkt, unser Gesundheitssystem, unsere Rentenkasse – sie alle können frisches Blut gebrauchen, betont Het Nieuwsblad.
Nachdem man jahrelang halbherzig und vergeblich versucht hat, die Folgen der Migration solidarischer zu verteilen, wird der Schwerpunkt nun voll auf die Abwehr der Migration gelegt, so De Morgen. Diese Evolution hin zur Repression kommt auch nicht aus heiterem Himmel, siehe schmutzige Deals mit libyschen Kriminellen, Zeltlager auf griechischen Inseln, Zurückschleppen von Bootsflüchtlingen und Bau diverser Grenzzäune. Mehr "Grenzinfrastruktur" wird übrigens ganz eigene Probleme mit sich bringen, denn Bau und Unterhalt werden teuer. Und sie werden die Menschenschmuggler nur noch reicher, mächtiger und rücksichtsloser machen. Der größte Erfolg der Befürworter der Repression ist aber, dass es ihnen gelungen ist, die Diskussion so zu verengen, dass jeder mit einer abweichenden Meinung umgehend als "Aktivist" abgestempelt wird. Dabei gibt es sehr wohl Alternativen: Europa ist nämlich nicht voll, der Druck auf unsere Sozialsysteme bleibt durchaus erträglich. Das heißt nicht, dass strengere Grenzkontrollen und eine korrektere Durchsetzung des Asylrechts eine Schande wären. Aber sie könnten Hand in Hand gehen mit einer gerechteren Politik in puncto humanitärer und Arbeitsmigration, unterstreicht De Morgen.
Mauer "Made in Europe"
Früher wurden in Europa Mauern abgerissen, erinnert Le Soir. Aber damit ist es vorbei, jetzt geht es darum, jedem Staats- und Regierungschef, der das will, die Möglichkeit zu geben, sich zu Hause zu profilieren. Und zwar, indem er zeigt, wie er die Migration auf dem eigenen Boden stoppen kann. Bei der dramatischen Darstellung der Migrationssituation geht es auch nicht um die Wirklichkeit, sondern um den Kampf um Wählerstimmen: Wir haben 2022 keine schwere Flüchtlingskrise erlebt. Mit Ausnahme von Österreich verzeichnen alle Länder weniger Migranten als 2015-2016. Die Krise in Belgien ist vor allem der Schließung von Unterbringungsplätzen geschuldet. Und noch zwei Punkte zu Mauern: Erstens wird man sie nie hoch genug bauen können, um wirklich verzweifelte Menschen draußen zu halten. Zweitens sind sie nicht neu, wir haben doch schon längst Mauern an den Grenzen Europas. Der einzige Unterschied wird sein, dass ihre Bausteine künftig den Stempel "Made in Europe" tragen werden – kein Label mehr, das für Fortschritt steht, sondern für eine Niederlage, wettert Le Soir.