"Erst London und Paris, dann Brüssel - die Europatour Selenskyjs", titelt Le Soir. "Wolodymyr Selenskyj auf Europatour, um noch mehr Mittel zu fordern", schreibt La Libre Belgique. "Die Migrationsfrage und Selenskyj im Mittelpunkt des EU-Gipfels", so die Überschrift auf Seite eins von L'Avenir. Denn der Besuch des ukrainischen Präsidenten in Brüssel findet vor dem Hintergrund eines Sondergipfels der Staats- und Regierungschefs statt. "Belgien ohne Position bei Europäischem Migrationsgipfel - "Mauer um Europa" spaltet Regierung", liest man dazu bei De Morgen.
"Zunächst war Selenskyj am Mittwoch in Großbritannien bei Premier Sunak und König Charles, einige Stunden später schon in Paris, um mit Staatspräsident Macron und Bundeskanzler Scholz zu sprechen", schreibt Le Soir in seinem Leitartikel. Und heute eben Brüssel, um sich mit den EU-Spitzen zu treffen. Diese Reihenfolge kann auch etwas darüber aussagen, wie Selenskyj die neue Hierarchie der Macht sieht: Zuerst die Bestätigung von "America First" im Dezember, dann Großbritannien als erste europäische Macht - nur die zweite Geige also für Frankreich. Und ganz zum Schluss eben noch die Europäische Union. Das mag dem einen oder anderen sauer aufstoßen, aber politische Empfindlichkeiten sind wirklich fehl am Platz.
Zunächst muss man annehmen, dass die Reihenfolge bis zum letzten Augenblick weniger durch geopolitische, sondern durch Sicherheitserwägungen bestimmt worden ist - der ukrainische Präsident auf Reisen ist schließlich eine Zielscheibe für die Russen. Es ist vorstellbar, dass der Zeitplan für Brüssel geändert wurde, nachdem Details über den geplanten Besuch im Vorfeld geleakt worden waren. Zweitens ist Selenskyj nicht auf einem diplomatischen oder Höflichkeitsbesuch. "Es geht ihm ganz pragmatisch um Geld, Flugzeuge, Waffen mit größerer Reichweite und Munition", erklärt Le Soir.
"Filtern" und "Überwachen" statt "Aufnehmen" und "Verteilen"
L'Avenir geht auf den EU-Sondergipfel ein, in dessen Fokus auch die Migrationspolitik stehen wird: Die Gräben sind nach wie vor tief und die Mitgliedsstaaten beharren auf ihren Positionen. Die südlichen Länder Europas, in denen die meisten Migranten ankommen, prangern seit Langem die sogenannten Dublin-Regeln an. Die besagen ja, dass das Land, in dem ein Flüchtling ankommt, seinen Antrag prüfen und ihn gegebenenfalls ausweisen muss. Eine Regelung, die bekanntermaßen zu kafkaesken Situationen führt und zu Flüchtlingen, die deshalb in andere EU-Länder weiterreisen, um dort um Asyl zu bitten.
Die europäischen Länder, die sich besonders mit diesem Phänomen konfrontiert sehen, darunter Belgien, pochen deshalb auf eine strenge Umsetzung der Dublin-Regeln. Das will auch die Europäische Kommission, die auf diese Weise bis 2024 einen neuen Migrationspakt und eine bessere Verteilung der Flüchtlinge erreichen will. "Aber trotz aller schönen Worte wird eines immer klarer: "Filtern" und "Überwachen" werden in Zukunft den Kern der europäischen Migrationspolitik bilden - anstatt "Aufnehmen" und "Verteilen"", beklagt L'Avenir.
Kein "Sleepy Joe", aber Zeit für einen Wechsel
Verschiedene Zeitungen greifen die traditionelle Rede zur Lage der Nation von US-Präsident Joe Biden auf. "Der Auftritt Bidens wurde von manchen als Prüfung gesehen, ob er fit genug ist für eine potenzielle zweite Amtszeit", so La Libre Belgique. Denn weniger als ein Drittel der Amerikaner trauen ihm noch die dafür notwendigen körperlichen und mentalen Fähigkeiten zu, immerhin wäre Biden zum Ende einer zweiten Amtszeit 2029 86 Jahre alt. In dieser Hinsicht konnte Biden mit seiner über einstündigen Rede vor dem Kongress überzeugen: Er war voller Energie und Überzeugung und strafte die von Trump ständig verbreiteten Klischees über "Sleepy Joe", den "schläfrigen Joe", Lügen.
Aber ob das ausreichen wird, um zu beweisen, dass Biden der ideale Kandidat ist, um die Demokraten auch 2024 zum Sieg zu führen, darf bezweifelt werden. Die Politikbegeisterung der Amerikaner ist im Keller - und je weniger Menschen ihre Stimme abgeben, desto besser für die Republikaner. "Biden sollte den Stab lieber weiterreichen an einen vielversprechenden, jüngeren Demokraten", fordert La Libre Belgique.
Außenpolitik ist Interessenpolitik
"Bidens Rede zur Lage der Nation war natürlich vor allem für den innenpolitischen Gebrauch gedacht", kommentiert De Tijd. Aber sie hat, gerade in puncto Wirtschaft, auch großen Einfluss auf die Europäische Union. Denn anstatt die Zersplitterung der Weltwirtschaft zurückzudrehen, zementiert Biden sie. Gesetze wie der sogenannte "Inflation Reduction Act" (IRA) verstärken den amerikanischen Protektionismus und gehen weiter als alles, was Trump angestoßen hatte. Europa findet keine adäquate Antwort auf dieses Vorgehen, auch wenn die Europäische Kommission schon verschiedene Vorschläge gemacht hat. Gerade kleinere Mitgliedsstaaten müssen befürchten, nicht mit den großen Wirtschaftsmächten der Union mithalten zu können und so zwei Mal zur Kasse gebeten zu werden. "Die EU muss deshalb wirklich eine resolute Antwort finden", unterstreicht De Tijd.
"Eigentlich müsste man es auch in Europa längst wissen: Außenpolitik ist Interessenpolitik", hebt das GrenzEcho hervor. Und gerade die USA haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihnen das Uncle-Sam-Hemd näher ist als der westliche Werterock. Erstaunlich, dass der mächtigste Wirtschaftsblock der Welt, der viel gerühmte, aber selten gelebte EU-Binnenmarkt, immer noch nicht versteht, sich auch gegen den Feind in seinem Bett zu wehren. Hinweise darauf, dass die USA uns vor fast 80 Jahren aus den Klauen des Nazi-Regimes retteten, sind nett, aber mittlerweile leicht verstaubt. "Man muss ja nicht immer, wenn man dankbar ist, gleich in die Knie gehen", wettert das GrenzEcho.
Boris Schmidt