"Es war unsere Tour", titelt Het Nieuwsblad. "Sechs Etappen-Siege und ein omnipräsentes grünes Trikot", so resümiert L'Avenir die Tour de France aus belgischer Sicht.
Auf vielen Titelseiten sieht man heute Wout Van Aert, der das grüne Trikot nach Paris gefahren hat. Und Jasper Philipsen, der gestern den Schlussspurt in Paris auf den Champs Elysees gewonnen hat. "Die Unbesiegbaren", titelt La Dernière Heure; und zu sehen ist neben Wout Van Aert auch der Däne Jonas Vingegaard, der die Tour gewonnen hat... "Aber der echte Gewinner, das ist Wout", schreibt Het Laatste Nieuws. "Was für ein Held!", meint auch Gazet van Antwerpen.
Die schnellste Tour de France aller Zeiten
Euphorische Schlagzeilen also. Demgegenüber sind einige Leitartikler deutlich zurückhaltender. Auf den ersten Blick war es eine Tour für die Annalen, meint La Libre Belgique. Ja, es gab Spannung bis zum Schluss; unerwartete Wendungen, viel Spektakel. Die beiden Favoriten Vingegaard und Pogacar haben sich nichts geschenkt. Das Ganze mit einem ausgeprägten belgischen Akzent; mit einem "monströsen" Wout Van Aert, der im radsportverrückten Belgien die Herzen hat höherschlagen lassen. Allerdings: Es war mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 42 km/h auch die schnellste Tour de France aller Zeiten. Damit wurden also auch die Rekorde aus der Armstrong-Ära geknackt. Und das lässt natürlich und auch legitimerweise das Doping-Gespenst wieder umgehen. Viele technische Neuerungen und eine wissenschaftliche Vorbereitung mögen Einiges erklären. Einiges, aber vielleicht nicht alles.
Gegen Ende der Tour de France haben einige Journalisten den Fahrern gegenüber dann doch auch schonmal das Wort "Doping" fallenlassen. Wout Van Aert reagierte empört. O-Ton: Auf eine so beschissene Frage wolle er eigentlich gar nicht antworten. Da hat er unrecht, meint dazu Gazet van Antwerpen. Die jüngste Geschichte der Grande Boucle ist randvoll mit Dopinggeschichten; in den 90er Jahren war das Fahrerfeld randvoll mit EPO. Trauriger Höhepunkt war die Ära Armstrong. Natürlich gilt auch für einen Wout Van Aert die Unschuldsvermutung. Und er hat auch das Recht auf den wohlverdienten Applaus. Aber er muss auch damit leben können, dass sich Journalisten und Beobachter Fragen stellen. Auch in der Armstrong-Ära war das Thema tabu. Wir haben gesehen, wohin das geführt hat.
L'Avenir glaubt seinerseits gar nichts mehr. Man muss sich doch nur die Verantwortlichen einiger Mannschaften anschauen, die jetzt in der Tour von sich reden gemacht haben. Das sind Leute, die in ihrer Zeit als Fahrer fleißig mitgedopt haben, die wissen, wie es funktioniert. Es war die schnellste Tour de France aller Zeiten. Muss man da noch mehr sagen? Jeder macht ja, was er will. "Aber ich werde 2023 die Tour de France nicht mehr verfolgen", meint der sichtbar resignierte Leitartikler.
"Wer vertraut den Russen noch?"
Einige Zeitungen blicken aber auch auf die Ukraine. "Bombenangriffe auf Odessa: Ein neuer russischer Warnschuss", titelt La Libre Belgique. Russland hat den Hafen von Odessa mit Raketen beschossen; das hat der Kreml – nach einem ersten Dementi – später auch zugegeben. Odessa ist der wichtigste Hafen für den Export von ukrainischem Getreide. Und eigentlich hatte man sich doch gerade darauf geeinigt, dass diese Exporte wieder aufgenommen werden können; auch Russland hatte zugestimmt. "Wegen des Angriffs ist dieses Abkommen wieder auf der Kippe", meint De Morgen. "Wer vertraut den Russen noch?", fragt sich De Standaard auf Seite eins.
"Das war dann doch ein rätselhafter Angriff", meint De Standaard nachdenklich in seinem Leitartikel. Wenn es Sinn und Zweck des Beschusses war, das Abkommen vom vergangenen Freitag zu sabotieren, dann gibt es nur eine Schlussfolgerung: Dann haben die Russen letzte Woche einmal mehr ein zynisches Schmierentheater aufgeführt. Und die ukrainische Feststellung, wonach man den Russen nie trauen kann, nun, das ist dann die einzig plausible. Der Kreml behauptet demgegenüber, man habe in Odessa militärische Ziele angegriffen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass den Militärverantwortlichen vor Ort nicht befohlen wurde, Odessa erstmal in Ruhe zu lassen; was viel über die Struktur und die Kommunikation innerhalb der russischen Armee aussagen würde. Aber, dennoch: Sehen wir es mal positiv. Am vergangenen Freitag war es das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass Russland und die Ukraine ihre Unterschrift unter denselben Text gesetzt haben. Vielleicht kann das eine neue Phase in dem Konflikt einleiten.
Guterres: "Kollektiver Selbstmord"
Einige Blätter sorgen sich um die Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel. Die Folgen sind überall auf der Welt jetzt schon sichtbar: bleierne Hitzewellen, verheerende Waldbrände, katastrophale Dürren. UN-Generalsekretär Antonio Guterres zog in der vergangenen Woche in Berlin wieder mal die Alarmglocke. Doch er ist ein Prediger in der Wüste, und das fast schon im wahrsten Sinne des Wortes, beklagt Het Belang van Limburg. Der Krieg in der Ukraine, im Zuge dessen Russland ja auch Gas als Waffe einsetzt, hat die politische Agenda insbesondere in Europa schlagartig verändert. Selbst in Ländern, die bis vor Kurzem noch unter Hochdruck an der Energiewende arbeiteten, muss man sich plötzlich wieder auf fossile Brennstoffe zurückbesinnen. Doch eigentlich ist das wie das sprichwörtliche Pflaster auf einem Holzbein. Niemand wagt es, den Bürgern zu sagen, dass die Klimakatastrophe nur abzuwenden ist, wenn wir drastische Maßnahmen ergreifen: Weniger fahren, weniger fliegen, weniger Fleisch, weniger Konsum.
De Morgen sieht das ähnlich. Man muss sich nur auf der Welt umschauen, um zu sehen, dass die Warnung von UN-Generalsekretär Guterres vor dem "kollektiven Selbstmord" nicht aus der Luft gegriffen ist. Und in Europa versucht man die fehlenden Gaslieferungen aus Russland meistens auszugleichen mit... fossilen Brennstoffen. Unterm Strich wird der CO2-Ausstoß damit nur noch weiter ansteigen. Wenn Belgien seinerseits die Kernreaktoren länger laufen lassen will, dann ist das das kleinere Übel. Nachhaltig ist das aber auch nicht. Es wäre schön, wenn man die Energiekrise in etwas Positives ummünzen könnte. Das heißt ja nicht, dass wir im Winter frieren müssen. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir die Energiewende noch viel schneller vorantreiben können. So würde aus der Krise eine Chance.
Roger Pint