"Ukraine ist offiziell EU-Beitrittskandidat – auch Republik Moldau erhält europäische Perspektive", fasst das GrenzEcho auf Seite eins die große und erwartete Entscheidung des gerade stattfindenden EU-Gipfels zusammen. "Ukraine: die historische Kandidatur für die Europäische Union", titelt Le Soir. "Nichts weist darauf hin, dass Putin sich mit dem Donbas begnügen wird", bringt derweil De Standaard den aktuellen Stand des russischen Angriffskriegs im Osten Europas auf seiner Titelseite.
De Standaard macht seinen Leitartikel zur Bestandsaufnahme: Die Nachrichten von der Front im Osten der Ukraine sind besorgniserregend. Gleichzeitig erhöht Putin verbal den Druck auf die baltischen Staaten, die zu Recht fürchten, die nächsten auf seiner Liste zu sein. Russisches Gas fließt immer langsamer gen Westen. Putin hat sich die Taschen mit den hohen Energiepreisen so voll gemacht, dass er sich sogar erlauben kann, den Gashahn ganz zuzudrehen. Nichts scheint das planmäßige und strategisch durchdachte Vorgehen des Kremlherrschers aufhalten oder auch nur stören zu können. Er nutzt eiskalt die Schwächen Europas aus, vor allem, dass die EU-Staaten möglichst billig aus diesem Albtraum raus wollen. Auf einen Feind, dem kein Preis zu hoch ist, sei es nun die Zahl der eigenen getöteten Soldaten oder eine weltweite Hungersnot, macht das natürlich wenig Eindruck, so resigniert De Standaard.
Europa muss Zähne zeigen und Dampf machen
Für Het Belang van Limburg kommt vor diesem Hintergrund die Entscheidung, der Ukraine den offiziellen Beitrittskandidaten-Status zuzuerkennen, zu einem entscheidenden Zeitpunkt. Während die Russen im Osten der Ukraine zwar langsam, aber stetig vorrücken, gibt die Europäische Union den Ukrainern einen enormen moralischen Schub. Für das, worauf zwar viele gehofft hatten, aber was bis vor Kurzem niemand für möglich gehalten hatte, gibt es nun eine Aussicht: dass die Ukraine sich aus der russischen Einflusssphäre löst und sich vollständig Europa zuwendet. Mehr als das ist es im Augenblick aber auch nicht: eine Aussicht für eine ferne Zukunft. Das weiß auch die Ukraine. Aber es bleibt ein wichtiges geopolitisches Signal: Der Kalte Krieg ist zurück und die Grenzen der Einflusssphären müssen wieder abgesteckt werden, auch von Europa. Sowohl die Ukraine als auch die Balkanländer gehören zu uns. Die EU muss verhindern, dass China und Russland noch stärker Fuß fassen können. Das geht nur, wenn wir diese Länder dichter an uns binden. Dafür ist natürlich eine Überarbeitung der EU-Verträge notwendig. Zwischenzeitlich muss Europa aber auch Zähne zeigen und der Ukraine mehr Waffen und vor allem mehr Artillerie liefern. Umso himmelschreiender ist hier die andauernde Zögerlichkeit Frankreichs und Deutschlands. Denn wenn es so weitergeht, gibt es bald vielleicht keine Ukraine mehr, die der EU beitreten könnte, wettert Het Belang van Limburg.
Für La Libre Belgique ist die Erweiterung der Europäischen Union schlicht eine Frage des Überlebens: Nicht nur, dass die Entscheidung eine moralische Pflicht war, sie ist auch eine geopolitische Entscheidung. Die EU hat sich dafür entschieden, eine greifbare Alternative zu den autoritären Regimen zu bieten, die die Demokratien bedrohen. Hätte sie anders entschieden, dann hätte das einen tödlichen Schlag für ihre Glaubwürdigkeit bedeuten können. Die Union darf sich aber nicht auf diese symbolischen Gesten beschränken, sie muss endlich aufwachen und echte Fortschritte machen bei der Einbindung, auch was den Balkan betrifft, unterstreicht La Libre Belgique.
Enorme Herausforderungen für die EU
Für das GrenzEcho ist die EU definitiv nicht reif für irgendwelche Erweiterungen: Das europäische Haus ist in einem desolaten Zustand. Es bräuchte eine gründliche Sanierung, es müsste zuerst die seit Jahren schwelenden internen Konflikte lösen, vor allem den mit Ungarn, Polen, den Visegrad-Staaten insgesamt. Und das nötige Kleingeld zur Aufnahme mehrerer maroder Staaten hat man auch nicht. Die EU wird alle Beitrittskandidaten hinhalten. Und es sich am Ende womöglich mit allen verscherzen. Der EU fallen gerade ihr Laxismus, ihr Zaudern und ihre Untätigkeit der vergangenen Jahre auf die eigenen Füße, so das vernichtende Urteil des GrenzEchos.
Für die EU würde eine Aufnahme der Ukraine unzählige Herausforderungen bedeuten, kommentiert L'Echo. Erstens bei der Verteidigung: Eine Ukraine, die zwar der EU, aber nicht der Nato angehören würde, würde Europa wohl in direkten militärischen Konflikt mit Russland bringen und würde eine stärkere gemeinsame europäische Verteidigung noch dringlicher machen. Zweitens würde sich die Frage stellen, warum man zwar die Ukraine aufnehmen sollte, aber nicht etwa Serbien, Albanien oder sogar die Türkei, die schon seit vielen Jahren ungeduldig warten. Was uns zum Funktionieren der EU selbst bringt. Denn die ist ja schon durch ihre Unbeweglichkeit, ihre endlosen Streitereien und ihre kafkaesken Prozeduren gekennzeichnet. Eine erweiterte EU droht, noch gelähmter dazustehen. Vor allem aber muss die Union ihre Werte und Ambitionen deutlicher formulieren, wofür es zweifelsohne einen neuen EU-Vertrag brauchen wird. Das beweisen allein schon bestimmte osteuropäische Länder wie Polen und Ungarn, die zum Beispiel den Rechtsstaat oder auch den Kampf gegen den Klimawandel infrage stellen. Das sind enorme Herausforderungen. Aber sie sind nicht zwangsläufig unmöglich zu bewältigen. Europa hat in der Vergangenheit durchaus bewiesen, dass es in der Lage ist, über sich selbst hinauszuwachsen, meint L'Echo.
"Chinesische Fake News mit belgischer Soße"
L'Avenir schließlich blickt noch weiter nach Osten, auf das chinesische staatsnahe Medium "Global Times", das sich in englischer Sprache vor allem an das Ausland richtet: Die "Global Times" hatte im Internet belgisches Bildmaterial von der großen Gewerkschaftsdemonstration mit 80.000 Teilnehmern am Montag in Brüssel verbreitet. Und dreist behauptet, die Demonstration habe sich gegen die Nato und die Bewaffnung der Ukraine gerichtet. L'Avenir ist sich nicht sicher, ob es besser ist, über diese "chinesischen Fake News mit belgischer Soße" zu weinen oder zu lachen. Die "Global Times" ist berüchtigt für diese Art grobschlächtiger Propaganda-Operationen nach russischem Vorbild, mit denen der Westen destabilisiert werden soll. Und egal, wie clownesk dieses Vorgehen auch erscheinen mag, so darf man eines doch nicht vergessen: Allein der Post über die angebliche Anti-Nato-Demonstration im Herzen Brüssels ist über eine Million Mal angeklickt worden, warnt L'Avenir.
Boris Schmidt