"2020 sind fast 14.000 Menschen mehr gestorben als in einem 'normalen Jahr'", titelt Gazet van Antwerpen. Het Nieuwsblad ist präziser: "Es sind 13.657 Belgier mehr gestorben als sonst". In der Demographie spricht man von "Übersterblichkeit". Also, es sterben mehr Menschen, als das statistisch normalerweise der Fall wäre. Hier wird ganz klar die Corona-Krise sichtbar. Die Größenordnung der Zahl stimmt mehr oder weniger mit den offiziell registrierten Covid-Toten überein, bemerkt dazu der Biostatistiker Geert Molenberghs.
Belgier halten sich an Maßnahmen – aber bitte keine weiteren Regeln!
"Vier von fünf werden sich während der Weihnachtszeit an die Corona-Regeln halten", titelt derweil Het Laatste Nieuws. Das geht aus einer Umfrage hervor, die die Zeitung zusammen mit dem Fernsehsender VTM in Auftrag gegeben hatte. Das scheint also doch darauf hinzudeuten, dass sich die Belgier der Realität beugen, so bitter sie auch sein mag.
"Na bitte!", freut sich Het Laatste Nieuws in seinem Leitartikel. Wir sind wohl kollektiv noch nie so brav gewesen. Schon seit einem Monat sind wir artig um Mitternacht zuhause; in anderen Landesteilen werden die Bürgersteige ja sogar schon um 22:00 hochgeklappt. Und der Umfrage zufolge werden sich acht von zehn Bürgern - wenn auch zähneknirschend - zu Weihnachten an die Regeln halten. Das ist in diesem Land durchaus bemerkenswert. Der Belgier mag nämlich bekanntermaßen eigentlich keine Regeln, hat sogar eine Aversion dagegen. Konformismus, Angepasstheit, Einheitsbrei, mit alledem kann er nichts anfangen. Um das zu erkennen, muss man sich nur mal ein Wohngebiet in den Niederlanden anschauen: Exakt identische Häuschen aneinandergereiht, das gibt’s hierzulande nicht. Nur: Hoffentlich bleibt das auch so; hoffentlich wirken die Regeln und der Respekt diesen Regeln gegenüber nicht ansteckend. Das Land wäre wesentlich langweiliger, wenn hierzulande plötzlich die Regeln wie Pilze aus dem Boden schießen würden; und wenn wir uns plötzlich auch noch dran halten würden...
Wobei: Manchmal wird das Land auch zum Opfer seiner selbst... Gazet van Antwerpen und Le Soir greifen die Aussagen der bekannten Infektiologin Erika Vlieghe auf. Vlieghe war Mitglied und manchmal Vorsitzende diverser Beratergremien. Vor dem Corona-Sonderausschuss der Kammer hat sie gestern den Finger in die Wunde gelegt und teilweise vernichtende Kritik geübt. Das derzeitige belgische Staatsgefüge, die Zersplitterung der Zuständigkeiten, die zu vielen Gesundheitsminister, all das erkläre auch, zumindest teilweise, die hohe Zahl der Covid-Toten in Belgien.
Corona-Krise und Klimakrise: Endlich aus Fehlern lernen!
Für die Vorgänger-Regierung war das alles kein Ruhmesblatt, analysiert Gazet van Antwerpen. Vlieghe hat kein gutes Haar an der Equipe um die frühere Premierministern Sophie Wilmès gelassen: kein Plan, keine politische Führung, keine Effizienz; und dann auch noch Minister, die vor den Fernsehkameras lügen. Entsprechend würde man eigentlich erwarten, dass sich zentrale Akteure aus dieser Zeit jetzt vornehm zurückhalten würden. So scheint insbesondere MR-Chef Georges-Louis Bouchez das aber nicht verstanden zu haben. Der plädiert immer noch auf allen Kanälen für Lockerungen mit Blick auf die Weihnachtszeit. "Faut le faire", das muss man erstmal hinkriegen: Man war mit seiner Partei an der Spitze einer Regierung, die das Land zwei Mal hintereinander in eine Gesundheitskrise gestürzt hat. Und in der neuen Regierung verlangt man, dass dieselben Fehler noch einmal wiederholt werden. Demgegenüber sieht man doch, dass die Menschen beginnen, sich mit der Realität abzufinden. Störsender wie Georges-Louis Bouchez sind im Moment so überflüssig wie ein Kropf.
Die unbequemen Feststellungen von Erika Vlieghe lassen sich leider auch auf andere Bereiche anwenden, warnt Le Soir in seinem Leitartikel. Mobilität, Klimaschutz, Atomausstieg, auch hier sorgt die institutionelle Lasagne dafür, dass sich letztlich nichts bewegt. Jeder Schritt nach vorn wird im Keim erstickt. Wer dennoch neue Wege beschreiten will, der hat keine andere Wahl als vorzupreschen und die anderen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Jüngstes Beispiel ist die Region Brüssel mit ihrer intelligenten Kilometerabgabe. Und auch da war das Gekrächze wieder groß. Es wäre schön, wenn die verschiedenen Machtebenen mal aufhören würden, sich gegenseitig in die Suppe zu spucken und dabei ganz nebenbei jegliche Änderung am Steuerecht zu verteufeln. Stattdessen sollte man gemeinsam am Fortschritt arbeiten...
Der Mensch "an sich", Homo sapiens, hat sich in letzter Zeit aber auch nicht von seiner Zuckerseite gezeigt, meint das GrenzEcho. Unter anderem haben wir auf die harte Tour erfahren müssen, dass wir uns als Spezies viel langsamer entwickeln, als wir gerne vorgeben; und dass wir allzu schnell in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster zurückfallen. Und ganz offensichtlich haben wir auch immer noch nicht begriffen, dass die Corona-Krise nicht das Schlimmste ist, was der Menschheit widerfahren kann. Dabei wären wir gut beraten, endlich zu begreifen, dass unser blauer Planet ein Geschenk ist, dass wir ihn mit Respekt und Demut behandeln sollten, statt ihn in einer unvorstellbaren Blindheit zu zerstören.
Die geistige Gesundheit der Jugendlichen leidet
"Wie geht es eigentlich unseren Jugendlichen?", fragt sich seinerseits Het Nieuwsblad. Inzwischen kennen wir die Antwort: Vielen von ihnen geht es nicht besonders gut. Die jungen Menschen leiden besonders stark unter dem sozialen Lockdown. Zu Beginn der ersten Welle dachten wir noch, die Jugendlichen würden das alles locker wegstecken, weil die virtuelle Welt, in der sie sich so gerne bewegen, wohl ausreichen würde, um diese Periode zu überbrücken. Jetzt, nach dem Höhepunkt der zweiten Welle, jetzt wissen wir, dass das nicht stimmte, jetzt wissen wir, wie fragil die angeblich sorglose Jugend doch tatsächlich ist. Auf der einen Seite sollten wir unsere Jugendlichen nicht überbehüten. Auf der anderen Seite müssen wir aber darauf achten, dass sie nicht in schwarze Gedanken abgleiten. Die Corona-Krise hat uns in vielen Bereichen die Augen geöffnet; hoffentlich hat diese Periode auch unseren Blick auf die geistige Gesundheit insbesondere der jungen Menschen geschärft.
Das Warten auf einen Impfstoff, das war ja auch ein großes Thema in dieser Woche. Viele Zeitungen beantworten heute die gängigsten Fragen zu diesem Thema, so z.B. L'Echo oder De Standaard. "Belgien mag klein sein in puncto Fläche, es ist aber groß im Bereich Impfungen", so derweil die Aufmachergeschichte von De Morgen. Im Blickpunkt steht ja im Moment die Produktionsniederlassung des US-Pharmakonzerns Pfizer in Puurs bei Mechelen. De Morgen drückt es so aus: Der Kampf gegen das Coronavirus ist auch ein bisschen "schwarz-gelb-rot"...
Roger Pint