"Haben wir für nichts geschlossen? Die Händler stehen unter Schock", liest man bei La Dernière Heure auf Seite eins. "Gesundheitsminister sorgt für Empörung", so das GrenzEcho. "Die Kommunikation von 'Professor' Frank Vandenbroucke sorgt für Wut aus allen Richtungen", titelt La Libre Belgique.
Heute dürfen die sogenannten "nicht-essentiellen" Geschäfte wieder öffnen. Das wird aber von kontroversen Äußerungen des föderalen Gesundheitsministers Frank Vandenbroucke (SP.A) überschattet. Der hatte nach dem letzten Konzertierungsausschuss, der die Wiederöffnung beschloss, gesagt, dass Einkaufen unter kontrollierten Bedingungen eigentlich kein großes Risiko darstelle. Und dass die Politik mit der Schließung einen "Schock-Effekt" bei der Bevölkerung auslösen wollte, um ihr den Ernst der Lage klar zu machen.
Eine Ohrfeige
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Hätte Frank Vandenbroucke nur diese goldene Regel beachtet, hätte er weniger Porzellan zerdeppert, stöhnt das GrenzEcho. Der Satz dokumentiert die Einstellung führender belgischer Politiker ihrer Bevölkerung gegenüber. Statt Demut angesichts all der Pleiten, Pech und Pannen zeigt die Polit-Elite der Bevölkerung, "wie man mit dem Hammer regiert". Gerade jetzt, wo es gilt, die Wirtschaft des Landes durch eine tiefe Krise zu führen oder die Akzeptanz der Menschen für Impfstoffe zu gewinnen, sollte man von der Politik erwarten, dass sie die Menschen mitnimmt, statt sie vor den Kopf zu stoßen.
Was ist Vandenbroucke dabei bloß durch den Schädel gegangen, fragt sich auch entgeistert L'Avenir. Die Händler sind bei diesen Äußerungen vor Fassungslosigkeit beim Regale neu bestücken von ihren Leitern gefallen. Man muss ihm zugutehalten, dass er keine Phrasendrescherei betreibt. Aber stand es ihm zu, eine Wahrheit auszusprechen, von der andere dachten, dass sie besser verborgen bleiben sollte? Dieses Eingeständnis wird das bereits angeknackste Vertrauen der Menschen in ein Krisenmanagement weiter untergraben, das schon bisher keine Begeisterung ausgelöst hat.
Die Äußerungen Vandenbrouckes sind eine Ohrfeige für die Menschen, die ihr Einkommen verloren haben, die Angst um die Zukunft ihrer Unternehmen haben, wettert L'Echo. Vandenbroucke, der die harte Linie beim Kampf gegen Corona verkörpert, hat einen politischen Fehler begangen. Seine Kommunikationspanne unterminiert das Vertrauen der Menschen in die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse der Regierung. Ja, im Kampf gegen das Virus sind einschneidende und schmerzhafte Maßnahmen nötig. Um sie verteidigen zu können, müssen sie aber sachdienlich und wissenschaftlich begründbar sein. Und es braucht eine gute Kommunikationsstrategie, um die Bevölkerung zur Befolgung der Regeln zu motivieren.
Ist sich Vandenbroucke bewusst, dass er mit seinem Zynismus die Bereitschaft torpediert, die Regeln zu befolgen?, fragt sich auch La Libre Belgique. Und auch die Glaubwürdigkeit aller zukünftigen Entscheidungen? Nach neun Monaten sanitärer Schutzmaßregeln mangelt es den Belgiern sowohl an kurz-, wie an mittelfristigen Perspektiven. Vor allem aufgrund der chaotischen Kommunikation von offizieller Seite. Die Politik behandelt die Menschen wie Kleinkinder, anstatt wie verantwortungsvolle Erwachsene. Lockerungen oder Verschärfungen müssen sowohl wissenschaftlich als auch politisch diskutiert werden. Aber das Allermindeste ist, dass die Regierung mit einer Stimme über so radikale, aber notwendige Maßnahmen spricht.
Politische Scheinheiligkeit und Populismus
Die politischen Spielchen rund um die Aussagen Vandenbrouckes kritisiert auch De Morgen. Bei allen Vorwürfen, die man dem Mann machen kann, beispielsweise einem Mangel an Empathie, zeigen die Angriffe vor allem der flämischen Nationalisten und frankophonen Liberalen, dass hier nach einem Sündenbock gesucht wird. Einem Sündenbock für das kollektive Versagen der vergangenen Monate. Föderal mag die N-VA ja in der Opposition sitzen, aber ihr flämischer Ministerpräsident Jan Jambon hat die Entscheidung, die Läden zu schließen, mitgetragen. Dito für die MR, die Vandenbrouckes Worte als "skandalös" anprangert, aber nicht nur mit in der Föderalregierung sitzt, sondern sogar den Ministerpräsidenten der Französischen Gemeinschaft stellt.
Der kantige Stil Vandenbrouckes hat es seinen politischen Gegnern leicht gemacht, sich auf ihn einzuschießen, analysiert Le Soir. So ist er statt des Virus zum Feind geworden in einem Angriff, der offen von der N-VA und im Hintergrund von der MR geführt wird. Ein Vorgehen, das politisch scheinheilig und populistisch genug ist. Statt des traurigen Schauspiels, das jetzt menschliche Dramen für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert, hätten die Verantwortlichen beim letzten Konzertierungsausschuss besser eine ehrliche, klare und fundierte Debatte führen sollen.
Worte vs. Amtsführung
Auch schlaue Menschen können manchmal dumme Sachen sagen, kommentiert Het Laatste Nieuws. Man kann die Aussagen Vandenbrouckes als Schnitzer eines Professors abtun, der durchweg glasklar kommuniziert. Ein Fehltritt, den man schnell vergisst und vergibt. Aber man muss festhalten, dass das die Basis in der Bevölkerung unterspült. Und dennoch: Wir gehören endlich zu den zehn europäischen Ländern, die das Virus am besten unter Kontrolle haben. Und das ist unter anderem dem sturen sozialistischen Professor zu verdanken. Schlau waren seine Worte nicht, seine Amtsführung aber ist es.
Das Einzige, was man Vandenbroucke vorwerfen kann, ist, dass er ist, was er ist, meint auch Gazet van Antwerpen: ein hyperintelligenter Professor und Manager, der immer glaubt, es besser zu wissen – und dabei fast immer Recht behält. Seine politische Karriere liegt hinter ihm, er hat nichts mehr zu verlieren. Jetzt will er noch seine derzeitige Baustelle aufräumen, aber eben auf seine Art und Weise. Hätte er bereits in der letzten Regierung gesessen, wäre die zweite Corona-Welle vielleicht nicht so schwer ausgefallen. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass seine Kollegen und Opposition versuchen werden, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber es gibt zurzeit wirklich Besseres, mit dem sie ihre Zeit verbringen könnten.
Boris Schmidt