"Mehr Geschäfte dürfen öffnen als im Frühjahr", titeln Het Belang van Limburg und das GrenzEcho. La Dernière Heure und L'Avenir präsentieren die "Liste der Läden, die offenbleiben dürfen". Seit Mitternacht befindet sich Belgien offiziell im "verschärften Lockdown". Sichtbarste Maßnahme ist, dass die "nicht unentbehrlichen" Geschäfte geschlossen werden.
Welche das genau sind und welche nicht, diese Liste liegt ja seit gestern vor. Bemerkenswert ist, dass die Supermärkte auch nur Lebensmittel und Hygieneprodukte verkaufen können, um den Fachgeschäften keine Konkurrenz zu machen. Natürlich gibt es aber auch die großen Online-Plattformen. Die Regierung ruft die Bürger auf, "belgisch" zu kaufen. Das ist allerdings "nicht so einfach", bemerkt Le Soir auf seiner Titelseite.
De Morgen erinnert noch einmal daran, warum wir das alles machen - mit einer bedrohlichen Schlagzeile: "In zwei Wochen liegen 3.000 Patienten auf der Intensivstation", schreibt das Blatt auf Seite eins. Das ist dann schon mehr, als in Normalzeiten an Kapazitäten zur Verfügung steht. "Man kann nur hoffen, dass gerade eben noch genug Betten bereitstehen werden", titelt De Standaard. "Schon elf belgische Patienten wurden nach Deutschland gebracht", schreibt Het Nieuwsblad.
Kollektives Versagen
"Das Land steht vor einer rabenschwarzen Woche", warnt De Morgen in seinem Leitartikel. Wenn die Kurven nicht schnell einen Knick bekommen, dann kann unser Gesundheitssystem in den nächsten Tagen zusammenbrechen. Das Schlimme ist, und das macht das Virus so verdammt frustrierend: Wir sehen die Effekte der Maßnahmen immer erst nach zwei Wochen. Heißt: Wir werden jetzt erst feststellen können, ob die Schließung der Horeca-Betriebe das Infektionsgeschehen gebremst hat. Natürlich trägt die Politik eine bleischwere Verantwortung für die Ereignisse, man denke nur an den desaströsen Sicherheitsrat vom 23. September, als die Maßnahmen noch einmal gelockert wurden. Das Versagen ist aber letztlich auch kollektiv. Zu viele Menschen haben die Regeln einfach missachtet. Das muss jetzt endgültig vorbei sein! Jedem sollte doch inzwischen der Ernst der Lage in den Krankenhäusern bewusst sein.
Eine unmenschliche Wahl verhindern
Wir sind auch das Opfer unserer selbst, meint auch Le Soir. Das Problem ist die belgische Funktionsweise: Wir antizipieren nicht, versuchen nicht, eine Situation zu verhindern. Wir reagieren erst, wenn sie da ist. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen. Man denke nur an die maroden Straßentunnel in Brüssel, die auch erst repariert wurden, als Teile der Decke heruntergekommen waren. Jetzt allerdings wird es höchste Zeit! Jetzt geht es darum, den Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Denn jetzt droht eine Situation, in der Ärzte am Ende entscheiden müssen, wen sie behandeln können und wen leider nicht. Nur zur Erinnerung, das ist es, worum es geht: Wir werden aufgerufen, drinnen zu bleiben, um zu verhindern, dass diese unmenschliche Wahl getroffen werden muss.
Gestern allerdings schien das noch nicht jeder verstanden zu haben. "Beim Start des Lockdowns: ein Einkaufsbummel", schreibt Gazet van Antwerpen. Unter anderem in Antwerpen war gestern ja noch verkaufsoffener Sonntag, und da war richtig viel los. Das Ganze hat für eine politische Polemik gesorgt. Die Antwerpener Provinzgouverneurin Cathy Berx nannte das Verhalten "zynisch und unfassbar" und übte vor allem scharfe Kritik an Bürgermeister Bart De Wever. Der schob die Schuld auf die Föderalregierung, die die Geschäfte einfach schneller hätte schließen müssen.
Freiheit bedeutet Verantwortungsbewusstsein, nicht Egoismus
"Was bringt Menschen dazu, in diesen Epidemie-Zeiten – koste es was es wolle – noch shoppen zu gehen?", fragt sich entgeistert De Standaard. "Warum in Gottes Namen stellt man sich in eine ellenlange Warteschlange, um zwei Kissen und ein paar Kerzen zu kaufen?". Man kann eigentlich nur noch zu dem Schluss kommen, dass die Botschaft bei einigen Menschen schlicht und einfach nicht mehr ankommt. Sie glauben wohl, dass alle anderen zuhause bleiben sollten. Dazu nur so viel: Freiheit bedeutet Verantwortungsbewusstsein, nicht Egoismus. Diese Menschen denken nur an sich, in jedem Fall nicht an diejenigen, die unter dieser Krise leiden.
"Für die Pflegekräfte in den überlasteten Krankenhäusern muss sich das angefühlt haben wie ein ausgestreckter Mittelfinger", glaubt Het Belang van Limburg. Man mag sich ohnehin fragen, ob der Lockdown wirklich streng genug ist. Nicht unbedingt nötige Fortbewegungen bleiben erlaubt. Das mag eine gute Neuigkeit sein für all jene, die zu vereinsamen drohen. Nur bedeutet das auch, dass sich eben jeder frei bewegen kann. Was sich hinter den Fassaden der Wohnungen und Häuser abspielt, das wissen wir nicht. Zum Glück, wir sind schließlich nicht in China. Eine Ausgangssperre hätte uns aber immerhin die Kontrolle über den Weg in die Wohnungen und Häuser gegeben.
Einfach wegschauen
"Was für ein deprimierendes Allerheiligen-Fest!", wettert auch ernüchtert Gazet van Antwerpen. Die Bilder vom Wochenende haben eindrucksvoll gezeigt, dass die Gesundheitsexperten und die Politiker viel zu viele Menschen nicht mehr erreichen. Und eben die Politiker hatten nichts Besseres zu tun, als sich den Schwarzen Peter untereinander zuzuschustern. Die Anklagebank ist proppenvoll: Da sitzen diejenigen, die shoppen offensichtlich für lebenswichtig halten, da sitzen aber auch die Politiker, die ihre Verantwortung nicht übernommen haben, allen voran Bürgermeister Bart De Wever. Es muss doch jedem klar sein, dass unser aller Gesundheit jetzt wichtiger ist als alle wirtschaftlichen Argumente. In diesem Sinne hätte Bart De Wever die Schließung der Geschäfte verordnen müssen.
Het Nieuwsblad ist nicht ganz so streng. De Wever hat zwar recht, wenn er sagt, dass die Föderalregierung die Geschäfte einfach früher hätte schließen müssen. Allerdings: Hatte er nicht auch schon das Chaos am Samstag gesehen, als schon ellenlange Schlangen vor den Geschäften standen? Er hat wohl weggeschaut. Da war er aber nicht der einzige, viele haben das getan. Vielleicht, weil sie wissen, dass einige Menschen eben nicht online bestellen, weil sie keinen Computer oder kein Internet haben. Vielleicht, weil sie den Menschen noch ein letztes Mal die Möglichkeit geben wollten, sich zu entspannen. Vielleicht müssen wir an der Schwelle zu diesem zweiten Lockdown noch ein letztes Mal zu dem Schluss kommen, dass wir alle ein bisschen Recht hatten.
Roger Pint