"König lehnt Rücktritt ab – Lachaert und Rousseau gehen in die Verlängerung", schreibt das GrenzEcho. "48 Stunden, um Vivaldi zu retten", so die Überschrift bei L'Echo. "Vivaldi hat jetzt zwei Tage, um das Unmögliche möglich zu machen", greift De Standaard ein Zitat von Conner Rousseau auf.
Vordergründig wegen eines schweren Konflikts mit dem MR-Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez drohten am Montag die Verhandlungen über eine Vivaldi-Koalition zu implodieren. Die beiden Vorregierungsbildner Egbert Lachaert und Conner Rousseau boten König Philippe ihren Rücktritt an. Der lehnte ab und gab ihnen zwei Tage Zeit, um sich doch noch zu einigen.
Für De Standaard war das Ganze eine beschämende Wendung in der endlosen politischen Seifenoper. Das hätte nicht sein müssen. Aber in der kranken belgischen Polit-Kultur sind die Interessen des Landes den Interessen von Individuen und Parteien untergeordnet. Das Schlimmste ist noch, dass die Politiker nicht begreifen, dass sie dabei sind, ihr eigenes Grab zu schaufeln.
Eine kollektive Verantwortung
Unerträglich!, findet auch Le Soir. Zum Glück gab es am Montag noch eine Sicherung namens Philippe. Der König konnte etwas Ruhe in dieses Spiel der Egos bringen, ohne dass jemand das Gesicht verlieren musste. Vielleicht hat er so den Weg zu einer Lösung geöffnet. Was die Politiker betrifft, werden die individuellen Verantwortungen in diesem Schauspiel Spuren hinterlassen – egal, wie die Sache ausgeht. Jetzt gibt es aber vor allem eine kollektive Verantwortung der politischen Klasse: möglichst schnell zu einer Einigung zu kommen.
Eine Schande!, wettert La Libre Belgique. Noch nie war die Situation so grotesk, ja sogar dantesk. Die Bürger können gar nicht anders, als mit Verblüffung und Erschöpfung zu reagieren. Sie haben genug von diesem schlechten Kino. Besonders, weil die Politiker sich in groben Zügen schon auf 80 Prozent eines Programms geeinigt hatten. Um einen bekannten Politiker zu paraphrasieren – einer, der den Namen auch verdient, nämlich Paul-Henri Spaak: Es ist nicht zu spät, aber es ist höchste Zeit.
Das ist ein Streit wie auf dem Pausenhof, kritisiert auch L'Echo. Falls die Vivaldi-Koalition eines Tages das Licht der Welt erblicken sollte, wird sie schon viel Kredit verspielt haben, bevor sie überhaupt loslegt. Merken die Politiker überhaupt, dass die Notfälle ganz anderer Art sind? Nämlich gesundheitlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art. Falls sie das realisieren, ist ihr Verhalten schlicht unanständig. Realisieren sie es nicht, dann zeugt das von einer atemberaubenden Abkopplung von der Realität.
Das Problem bleibt das gleiche
Das war wieder ein neuer Tiefpunkt für die belgische Politik, giftet Gazet van Antwerpen. Und Conner Rousseau hat Recht: Der Bürger empfindet tiefen Abscheu für die Politik. Oder, und das ist noch schlimmer: Er zuckt einfach mit den Schultern. Das Problem bei den Verhandlungen sind ja nicht fundamentale inhaltliche Meinungsverschiedenheiten. Es geht mal wieder um Parteipolitik. Und selbst wenn es zu Neuwahlen kommen sollte, das Problem wird das gleiche bleiben: Die Menschen werden sich wieder zwischen den gleichen Parteien entscheiden müssen. Notfalls eben mit gerümpfter Nase.
Dass Bouchez vor allem Teil des Problems ist, und nicht der Lösung, sollte jedem klar sein, der die Geschehnisse in der Rue de la Loi beobachtet, hält Het Belang van Limburg fest. Diese Kritik kommt von allen Seiten – außer aus der eigenen Partei. Jeder normal denkende Mensch würde sich Fragen stellen. Aber anscheinend ist Selbstreflexion nicht die Stärke von Herrn Bouchez. Es ist höchste Zeit, dass er seine schwarz-gelb-rote Mundschutzmaske von den Augen nimmt. Ansonsten wird er nicht nur diese Koalition, sondern das ganze Land blind in den Abgrund führen.
Mit dem Handy und der Leier in der Hand
Es wäre einfach, den selbsterklärten Sonnenkönig Georges-Louis Bouchez als Karikatur hinzustellen, kommentiert Het Nieuwsblad. In der Hälfte aller Fotos scheint ihm der Wahnsinn aus den Augen zu blicken. Er wirft politische Handgranaten so beiläufig in die Runde, wie die Drogenmafia in Antwerpen, und macht damit alle verrückt. Man darf aber nicht vergessen, dass Bouchez vor allem ein Ziel hat: Seine MR in der Wallonie größer als die PS zu machen. Für ihn sind in der Politik alle Kniffe erlaubt.
Allerdings scheint Bouchez nicht zu verstehen, dass jetzt nicht der Moment für "Politics as usual" ist. Die anderen Parteien begreifen das besser. Bouchez steht auf der Titanic und macht Selfies. Er geht davon aus, dass es für ihn persönlich schon noch ein Rettungsboot geben wird. Egal, wie es jetzt weitergeht – sei es jetzt ein Neustart, eine andere Konstellation oder Wahlen – wenn wir es schaffen, diese Art von Politik loszuwerden, kommen wir vielleicht noch irgendwo hin. Andernfalls bleiben uns nur noch Stoßgebete.
Für De Morgen ist Bouchez symptomatisch für eine ganze Klasse von Politikern. Launenhaft, etwas narzisstisch und sehr mit der eigenen Profilierung in den Sozialen Medien beschäftigt. Darüber vernachlässigen sie den Punkt Zusammenarbeit. Ohne den kann es aber keine Regierung geben. Ihre Unverantwortlichkeit geht so weit, dass sie mit der Leier in der Hand Rom beim Niederbrennen zuschauen.
Eine Restregierung mit kaum noch Unterstützung, eine zweijährige Blockade und die einzige politische Institution, die noch einen kühlen Kopf zu bewahren scheint, ist der König – das ist, wo wir stehen. In einer gut funktionierenden Demokratie gäbe es für so eine Situation einen Notknopf: Neuwahlen.
Boris Schmidt
Interessant und aussagekräftig was viele Zeitungen, jeglicher Couleur oder Sprachzugehörigkeit, schreiben. Viele Politiker haben anscheinend total vergessen was Demokratie in der Praxis bedeutet, nämlich Kompromisse eingehen. In einer funktionierenden Demokratie sollten gewählte Parteien, die Ihren Auftrag, den sie von ihren Bürgern bekamen, ernst nehmen und auch ausführen – falls sie den Mut und das Fingerspitzengefühl zum Regieren im „Koalitions-Team“ besitzen!
Das beschriebene Verhalten des Herrn Bouchez erinnert ein bisschen an Herrn Lindner, Fraktionsvorsitzender der FDP, welcher, nach der letzten Bundestagswahl und den anschließenden Koalitionsverhandlungen, es kategorisch ablehnte sich an einer ‚Jamaika-Regierung‘ zu beteiligen.
Seitdem ist die FDP in einigen Landesparlamenten und Stadträten verschwunden und muss nun bei jeder Wahl aufs Neue um ihre 5%-Hürde bangen.