"Türkei droht Europa mit Millionen von Migranten", titelt L'Echo. "De Standaard schreibt: "Flüchtlinge und Migranten Spielball in einem geopolitischen Spiel". Und bei Gazet van Antwerpen heißt es: "Es droht eine humanitäre Katastrophe".
Nachdem der türkische Präsident Erdogan am vergangenen Wochenende die Grenze nach Griechenland wieder geöffnet hat, stehen dort Tausende Flüchtlinge und Migranten und wollen in die EU. Griechenland schickt Polizisten und Soldaten, um das zu verhindern und setzt das Asylrecht für einen Monat aus.
De Standaard kommentiert: Nun sitzen sie fest in einem Niemandsland, gefangen in einem zynischen Machtspiel zwischen der EU und der Türkei. Falls Erdogan gedacht hat, die Verzweiflung der Flüchtlinge ausnutzen zu können, um mehr europäische Unterstützung für seine Syrienpolitik zu erzwingen, dann wird er bald merken, dass das europäische Herz sehr kalt geworden ist. "Wir schaffen das" ist ein Echo aus vergangenen Zeiten. Die Tür ist zu, stellt De Standaard fest.
Zeit nicht genutzt
De Morgen notiert: Die Feststellung ist schmerzhaft, aber wahr. Fünf Jahre nach der so genannten Flüchtlingskrise hat die Europäische Union immer noch keine Migrationspolitik, die ihres Namens würdig wäre. Trotz regelmäßiger Versprechungen und Pläne. Mit der Türkei wurde ein Auffangdeal geschlossen, der zwar moralisch verwerflich ist, aber in der Beherrschung der Flüchtlingsströme sehr effektiv scheint. In Libyen schloss Italien einen noch schmutzigeren Deal mit noch schmutzigeren Partnern ab, um Flüchtlinge in menschenunwürdigen Auffanglagern festzuhalten. Die EU schaute feige darüber hinweg. Diese Deals fassen die Nicht-Politik der EU bei der Migration gut zusammen.
Aufhalten, Menschen so weit wie möglich von den Grenzen weghalten, ist das einzige, was zählt. Die Auffang-Deals hätten die Zeit geben können, eine kohärente solidarische Politik auf die Beine zu stellen. Diese Zeit wurde nicht genutzt. Gut, niemand behauptet, dass das einfach ist. Aber es ist auch nicht unmöglich. Die Verteilung einer bestimmten Anzahl von Flüchtlingen auf alle EU-Schultern könnte zum Beispiel eine korrekte, strenge Asylpolitik mit einer realistischen wirtschaftlichen Migrationspolitik kombinieren. Die Frage ist, ob jemand so etwas noch überhaupt zu denken wagt, notiert De Morgen.
Moralische Bankrotterklärung
L'Echo fragt sich: Hat Europa den Kampf für seine Werte aufgegeben? Die Staats- und Regierungschefs der EU konzentrieren sich derzeit vor allen Dingen auf einen anderen Kampf. Auf den Schutz der Grenzen. Schutz gegen das Elend der Welt. Die Grenzen zu schützen ist eine hoheitliche essentielle Aufgabe. Wenn diese aber nicht mit den fundamentalsten Menschenrechten in Einklang gebracht wird, ist sie eine moralische Bankrotterklärung. Und für die Europäische Union, die auf der Asche der Weltkriege gebaut wurde, ist dieser Bankrott eine existentielle Bedrohung.
Gazet van Antwerpen hofft: Jetzt, wo sie nicht mehr auf Erdogan rechnen kann, wird die EU vielleicht endlich dazu verpflichtet, die Flüchtlingsproblematik anzupacken, wie es sich für einen erwachsenen, wohlhabenden Kontinent gehört. Einstimmig, mutig, effizient und mit einer langfristigen Vision. Es wird eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre. Und unendlich schwieriger als der Ausbruch eines Virus, glaubt Gazet van Antwerpen.
Ein schmaler Grat
Und damit kommen wir zum zweiten großen Thema der belgischen Presse: das Coronavirus. L'Avenir kommentiert: Die institutionelle Trägheit Belgiens und die Langsamkeit der Konzertierungsausschüsse zwischen Föderalstaat und Teilstaaten sind nicht nur eine Energieverschwendung, sondern zeigen auch die Unfähigkeit, in dringenden Fällen mit einer Stimme zu sprechen.
Heute weiß noch niemand, wie schwer und wie lang die Epidemie dauern wird. Wie viele Opfer wird es in Belgien geben? Was werden die Auswirkungen auf die Wirtschaft sein? Und inwiefern wird das Virus die Organisation der Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr beeinflussen? Aber eines ist sicher: dass dieses kleine Virus unsere menschlichen Widersprüche aufgezeigt hat. Zwischen unseren Ängsten und unserem Bedürfnis nach Sicherheit. Und es hat wieder einmal mehr die schwächelnde Gesundheit unseres Systems aufgedeckt.
De Tijd schreibt dazu: Das Coronavirus ist anders als das Grippe-Virus. Erstens, weil es die Grippe nicht ersetzt, sondern nochmal obendrauf kommt. Aber auch, weil es keinen Impfstoff gibt, weil es, so wie bislang bekannt, ähnlich ansteckend, aber tödlicher ist, und weil wir noch zu wenig wissen. Das Coronavirus ist größtenteils immer noch Terra incognita, Neuland. Panik ist da ein schlechter Ratgeber, Selbstgenügsamkeit aber auch. Jetzt, wo das Coronavirus kein ferner Gedanke, sondern nahe Realität ist, kommt es darauf an, wie man sich auf diesem schmalen Grat bewegt. Ein Teil davon ist simpel. Hände waschen, keine Hände schütteln, Papiertaschentücher benutzen und wegwerfen. Der andere Teil ist bei den momentan aufgeheizten Emotionen etwas kniffliger: ruhig und trotzdem wachsam bleiben, fasst De Tijd zusammen.
Volker Krings