"Kein Mord, sondern reguläre Sterbehilfe", titelt Het Nieuwsblad. Die Zeitung ist die einzige, die es noch geschafft hat, das Urteil des Schwurgerichts von Gent auf ihre Titelseite zu heben. Die Eilmeldung kam in den frühen Morgenstunden, gegen 1:00 Uhr.
Der Prozess hatte vor allem in Flandern enormes Aufsehen erregt. Drei Ärzte hatten sich vor dem Schwurgericht verantworten müssen. Die Anklage lautete auf "Giftmord". Konkret ging es um den Fall Tine Nys. Mit 38 Jahren war sie 2010 aus dem Leben geschieden. Begründet hatte sie ihr Gesuch auf Sterbehilfe mit "unerträglichen psychischen Leiden".
Ihre Familie war aber der Ansicht, dass nicht alle gesetzlich festgelegten Kriterien erfüllt waren. Die Staatsanwaltschaft war dieser Argumentation gefolgt und hatte im Schlussplädoyer einen Schuldspruch für zwei der drei Ärzte gefordert. Die Geschworenen haben nun aber anders entschieden und alle drei Angeklagten freigesprochen.
Ein dramatisches Erbe
Doch unabhängig von dem Urteil: Dieser Prozess wird Spuren hinterlassen, glauben einige Zeitungen. "Euthanasie wird nie mehr so sein wie früher", bemerkt etwa Het Laatste Nieuws auf seiner Titelseite. Was das Blatt wohl konkret meint, das steht auf Seite eins von De Standaard: "Hausärzte lassen die Finger von Euthanasie-Akten". "Hausärzte werden ab jetzt zögern, sich zu Sterbehilfeanträgen zu äußern, aus Angst, auch vor Gericht zu landen", sagt ein Fachmann.
"Die neue Angst des Hausarztes", notiert denn auch Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Vor dem Genter Schwurgericht mussten sich drei Angeklagte wegen Giftmords verantworten. Vor den Geschworenen standen aber keine Verbrecher oder Affekttäter, sondern zwei Ärzte und ein Psychiater, die nach Ehre und Gewissen der Ansicht waren, einer Patientin geholfen zu haben. Ein Schuldspruch wäre regelrecht schockierend gewesen. Natürlich ist so ungefähr jeder der Überzeugung, dass die Gesetzgebung verfeinert werden könnte, vielleicht sogar sollte. Und doch hätte dieser Prozess vielleicht nie stattfinden dürfen. Resultat ist jetzt jedenfalls, dass laut einer Befragung acht von zehn Ärzten zutiefst verunsichert sind. Parallel dazu steigt die Zahl der Anträge auf Sterbehilfe. Das Erbe dieses Prozesses ist regelrecht dramatisch.
Wir saßen quasi alle in der Geschworenenjury, meint De Standaard. Bei diesem Verfahren ging es definitiv um mehr als nur den Fall Tine Nys. Hier stand die Euthanasiegesetzgebung als solche auf dem Prüfstand. Immerhin: Es war kein Prozess gegen die Euthanasie. Der Konsens in dieser Frage ist und bleibt eine gesellschaftliche Tatsache. Was Ärzte und auch Patienten nach diesem Prozess verlangen, das ist aber mehr Sicherheit. Juristisch und auch ethisch. Das Schädlichste für Sterbehilfe, das sind Grauzonen.
"Goodbye"
Das gerade erst frisch gefallene Urteil von Gent hat das eigentliche Thema Nummer eins ein bisschen in den Hintergrund gedrängt. Heute ist ja Brexit-D-Day, Schlag Mitternacht verlässt Großbritannien die Europäische Union. "Nach 47 Jahren sind die Briten weg", titelt De Morgen. "Goodbye", meint lapidar La Libre Belgique auf Seite eins. De Tijd und L'Echo haben heute beide dasselbe Titelbild: eine zerfetzte Europaflagge. Die Schlagzeile von Le Soir ist auch der Titel eines Beatles-Songs: "Let it be", lass es geschehen. All diese Zeitungen veröffentlichen heute große Sonderbeilagen zum Brexit.
Auch die Leitartikel sind sehr emotional. "Der bittere Brexit-Wein ist definitiv abgefüllt", meint etwa La Libre Belgique. Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn auch zu trinken. Schon bald wird sich zeigen, wie heftig der Kater ausfällt. Denn jeder weiß, dass die Folgen dieser Trennung schwerwiegend sein werden und dass es keine Gewinner geben wird. Das Ganze hinterlässt aber auch eine tiefe Trauer. Gestern haben die EU-Parlamentarier nach der Ratifizierung des Brexit-Abkommens bewegt ein Lied angestimmt: "Ce n'est qu'un au revoir", wir sehen uns wieder. Das zeigt, dass das, was die Briten verlassen, mehr ist, als eine simple Freihandelszone.
Le Soir ist offensichtlich mit der Songauswahl nicht einverstanden: Auf Wiedersehen? Das ist bestimmt nicht für morgen, da muss man wohl mindestens eine Generation warten. Jetzt haben wir erstmal den Point of no return erreicht, es gibt kein Zurück mehr. Auf den ersten Blick mag es eine Erleichterung sein. Unterm Strich sehen wir hier aber ein enormes Scheitern. Nicht nur, dass die EU mit Großbritannien einen wichtigen und gewichtigen Partner verliert. Zudem kann man nur feststellen, dass die EU es nicht geschafft hat, die Briten von ihrem Mehrwert zu überzeugen, den Brexit zu besiegen.
L'Echo und De Tijd wenden sich auf Englisch an die Briten: "Liebe britische Freunde, so sehr wir den Brexit bedauern, wir akzeptieren die demokratische Entscheidung des britischen Volkes. Jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, hoffentlich im Geiste der Zusammenarbeit, der guten Nachbarschaft und der Freundschaft. Oscar Wilde hat gesagt: 'Gegenseitiges Missverstehen ist die geeignete Grundlage für eine Ehe.' Wir hoffen, dass der heutige Tag der Beginn ist von gegenseitigem Verstehen."
Die eigentliche Arbeit beginnt erst jetzt
Einige Zeitungen fühlen sich auch an eine Scheidung erinnert. Im Grunde war es ohnehin keine Liebesheirat, sondern eine Zweckehe, glaubt L'Avenir. Und jetzt: Küsschen links, Küsschen rechts, aber vor allem viel zerdeppertes Porzellan. Die Briten und die Kontinentaleuropäer haben es einfach nicht geschafft, sich zu lieben.
"Eine eiskalte Scheidung", wie De Morgen präzisiert. Und jetzt beginnt erst die eigentliche Arbeit: Jetzt muss der Hausstand aufgeteilt werden. Diejenigen, die die künftigen Beziehungen aushandeln sollen, die wären gut beraten, erst einmal eine kalte Dusche zu nehmen. Das kann nämlich noch in einen Rosenkrieg ausarten.
Wir werden die Briten noch vermissen, glaubt schließlich Het Nieuwsblad. Der eine oder andere wird sie als ewigen Störsender empfunden haben. Sie waren aber damit auch ein stabilisierender Faktor, ein Gegengewicht für die mächtige deutsch-französische Achse. Wir müssen vermeiden, dass die Insel abdriftet, oder gar durch Trump gekapert wird. Das ist für Europa von wesentlicher Bedeutung.
Roger Pint