"Hoffnung auf einen 'Last-Minute-Deal'", titelt Gazet van Antwerpen. "Dann doch wieder Aussichten auf einen geordneten Brexit", schreibt Het Nieuwsblad auf Seite eins. L'Avenir spricht von einer "erzwungenen Einigung".
Der britische Premierminister Boris Johnson hat am Donnerstagvormittag zusammen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Weißen Rauch verkünden können. Beide Seiten haben sich buchstäblich in letzter Sekunde auf ein Abkommen einigen können, das den Austritt Großbritanniens aus der EU regeln soll. Der Deal ist aber noch nicht amtlich. Das britische Parlament muss dem Entwurf nämlich noch zustimmen. Die alles entscheidende Sitzung wurde für Samstag anberaumt. Der Ausgang der Abstimmung gilt als offen, da die Regierung von Boris Johnson ja keine Mehrheit mehr hat. "Jetzt liegt es an den Briten", titeln denn auch Het Laatste Nieuws und Le Soir. "Alle Augen richten sich jetzt auf das britische Unterhaus", notieren La Libre Belgique, De Morgen und De Tijd. "Die Zitterpartie geht weiter", meint das GrenzEcho. "Alles oder nichts", so die Schlagzeile von L'Echo.
Brexit-Abkommen sorgt für gemischte Gefühle
Jetzt gibt es also doch ein Abkommen, meint Le Soir in seinem Leitartikel. Als die Eilmeldung über die Bildschirme tickerte, sorgte das für gemischte Gefühle: Erleichterung einerseits, aber auch ein gewisse Tristesse. Heimlich, still und leise wird wohl der Eine oder Andere noch immer darauf gehofft haben, dass es am Ende doch nicht zum Brexit kommt. Spätestens am Donnerstagvormittag ist wohl der letzte Träumer aufgewacht. Aber immerhin wirkt das Abkommen auf den ersten Blick vernünftig. Und gemessen an das Schmierentheater der letzten Wochen und Monate grenzt das ja schon an einen Wunder. Zumal der britische Premier Boris Johnson eine doch skrupellose, schwefelhaltige Aura hat. Das große Verdienst, um nicht zu sagen, die Weisheit der EU-Unterhändler besteht wohl darin, dass man sich dadurch nicht hat beirren lassen.
Auch L'Echo lobt die Geduld und die Flexibilität der EU-Verhandlungsführer. Die Europäer haben sich sogar nicht gescheut, am Ende wie die Verlierer zu wirken. Bislang hatte es doch immer geheißen, der Deal, der mit Johnsons Vorgängerin Theresa May ausgehandelt worden war, sei der einzig mögliche. Jetzt wurden also doch Veränderungen vorgenommen, was Boris Johnson wie den strahlenden Sieger erscheinen lässt. Diese Haltung ehrt die EU.
Die eigentliche Brexit-Arbeit kommt noch
Het Nieuwsblad sieht das ganz anders. Boris Johnson ist hier eindeutig der Verlierer. Er ist keinen Millimeter weiter als seine Vorgängerin Theresa May. Er liegt vielleicht nicht auf dem Bauch, aber viel hat da nicht gefehlt. Offen ist dabei allerdings, ob sich der britische Premier an die gemachten Absprachen halten wird. Es wäre längst nicht das erste Versprechen, das dieser Mann brechen würde. Gerade erst hat er ja die Nordiren vor den Bus geschubst. Die EU mag eine Schlacht gewonnen haben, der echte Krieg kommt aber noch.
Nordirland bleibt die Achilles Ferse des Brexit Deals, glaubt De Standaard. Laut dem Abkommen wird Nordirland zwar in der Zollunion des Vereinigten Königreiches bleiben, aber gleichzeitig auch in einer speziellen Zollpartnerschaft mit der EU. So vermeidet man eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland. Dieser Deal enthält also schon die Keime für ein Auseinanderdriften Großbritanniens. Für die nordirischen Protestanten muss es eine besonders bittere Pille sein, dass Johnson sie jetzt einfach fallen lässt.
Der Brexit-Deal von Donnerstag ist nicht besonders gut, aber wohl gut genug, um das nackte Chaos zu verhindern, findet De Tijd. Unter der Voraussetzung, dass das Unterhaus am Samstag sein grünes Licht gibt, wird zumindest die Scheidung in groben Zügen geregelt. Das gilt in erster Linie für die Rechnung, die die Briten zu begleichen haben. Auch werden die Rechte der Briten in die EU und der EU-Bürger in Großbritannien geregelt. Das ist aber längst nicht das Ende des Weges. Über die künftigen Handelsbeziehungen muss ja noch verhandelt werden. Der gestrige Deal ist, wenn er denn kommt, nicht das Ende, sondern eigentlich erst der Anfang.
Het Belang van Limburg sieht das genauso. Erstmal muss Johnson da erfolgreich sein, wo Theresa May dreimal gescheitert ist. Sollte das Parlament zustimmen, dann beginnt aber eigentlich erst die Brexit-Arbeit.
Konfrontationspolitik hat ein Verfallsdatum
"Wenn der Brexit denn kommt…", scheint Het Laatste Nieuws einzuhaken. Erstmal muss Johnson seinen Deal dem Unterhaus verkaufen. Die Chancen stehen eher schlecht. Aus dem Parlament hat man bis jetzt noch nicht viele positive Stimmen gehört. Johnson ist hier aber auf Rosen gebettet. Wer seinen Deal abschießt, den kann man verantwortlich machen für das Chaos, das ein No-Deal mit sich bringen würde. Johnson ist ab jetzt derjenige, der ein Abkommen erreicht hat. Er hat jetzt schon gewonnen. Und darum ging es letztlich: um Macht, um persönliche Interessen. Jedenfalls nicht um den Wohlstand der Briten.
Denn auch mit diesem Abkommen wird es nur Verlierer geben, meint Gazet van Antwerpen. Schon jetzt hat der Brexit Millionen gekostet. Staaten und Unternehmen haben Vorkehrungen getroffen; an den Börsen ist Geld in Rauch aufgegangen; schon jetzt hat die europäische Wirtschaft insgesamt viel Schaden genommen. Und selbst das günstigste Brexit-Szenario wird erhebliche negative Folgen haben. Insofern muss man festhalten: Selbst, wenn es am 31. Oktober zu einem geordneten Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union kommt, dann bleibt der Brexit ein Tiefpunkt in der politischen Geschichte der Europäischen Union.
Für De Morgen ist das womöglich ein Zeichen dafür, dass auch jeder Populist irgendwann mal an seine Grenzen stößt. Die Spannkraft der politischen Macho-Rüppel, die die Eliten angeblich im Namen des Volkes niederringen wollen, ist offensichtlich begrenzt. Früher oder später muss man sich doch auf demokratische Kompromisse besinnen. Ansonsten springt einem die Sache ins Gesicht. Das sollte allen eine Lehre sein, die ihr Heil bei Rattenfängern suchen: Das Verfallsdatum von Konfrontationspolitik kommt oft früher als man denkt.
Roger Pint