Klar, das Ganze stinkt! Es stinkt sogar gewaltig! Und man kann sich da durchaus die Frage stellen, in welcher Parallelwelt gewisse Zeitgenossinnen und Zeitgenossen leben müssen. Etwa die Zeitgenossin, die es offensichtlich vollkommen normal findet, dass sie, wenn sie morgens die müden Äuglein öffnet, erstmal auf Tüten und Taschen blickt, die randvoll gespickt sind mit Geldscheinen. Eva Kaili, denn von ihr ist die Rede, also jene griechische Sozialistin, die bis vor einigen Wochen noch Parlaments-Vizepräsidentin war. Eva Kaili muss allerdings seit Mitte Dezember mit kahlen Betonwänden vorliebnehmen; ihre U-Haft ist gerade wieder verlängert worden.
Mal ernsthaft: Es ist vor allem die schiere Maßlosigkeit, die den EU-Korruptionsskandal auch Wochen nach seiner Enthüllung immer noch so schockierend macht. Da werden 750.000 Euro in kleinen Scheinen in einem Koffer durch Brüssel spazieren gefahren. Da wechseln Papiertüten mit 20.000 Euro mal eben in einem Hinterzimmer den Besitzer. Und das in regelmäßigen Abständen. Immer dann, wenn ein Abgeordneter einen vorab bestellten Standpunkt vertreten hatte. So hat es zumindest der Kronzeuge ausgesagt. Da wurde also mit Geld nur so um sich geworfen. Buchstäblich. Eine Parallelwelt eben. Und eine besonders bekloppte, möchte man hinzufügen. Und noch immer kommen jeden Tag neue ebenso pikante wie haarsträubende Details ans Licht.
Genau das wird wohl der Grund sein, warum sich die Sozialisten über das Prinzip der Unschuldsvermutung hinweggesetzt und Marc Tarabella fallengelassen haben. Da verhält es sich wohl so, wie bei einer tödlichen Krankheit: Allein ein diffuser Verdacht, dass jemand infiziert sein könnte, reicht, um ihn erstmal in Quarantäne zu verfrachten. Der Umgang mit Tarabella ist denn auch der beste Beweis dafür, wie explosiv dieser Korruptionsskandal tatsächlich ist.
Politik zum Abgewöhnen? Natürlich! Doch sind die ersten Leidtragenden eben die Politiker selbst. Nicht die Schwarzen Schafe, die am Ende offensichtlich die Augen fast schon größer als den Pansen hatten und nicht mehr wussten, wohin mit dem Geld. Nein! Diejenigen, die sich jeden Tag zu 110 Prozent für die Interessen ihrer Wähler und für die Demokratie als solche engagieren. Denn die gibt es! Das ist sogar die übergroße Mehrheit. Sie stehen jetzt wieder unter Generalverdacht, sie müssen sich jetzt mehr denn je bei jedem öffentlichen Auftritt die immer gleichen Vorwürfe der Selbstbereicherung anhören, ganz zu schweigen vom poujadistischen Dauerfeuer der diversen Troll-Armeen in Sozialen Netzwerken.
Eben wegen ihrer schieren Maßlosigkeit, eben weil sich hier mit einem Mal alle Vorurteile sogar im Quadrat zu bestätigen scheinen, hat die Gruppe um den Italiener Pier Antonio Panzeri mehr Schaden angerichtet, als es alle Viktor Orbans dieser Welt vermocht hätten. Das ist im Übrigen keine bösartige Unterstellung an die Adresse des Donau-Autokraten. Gleich nach Bekanntwerden des Skandals forderte Orban nicht weniger als die Auflösung des EU-Parlaments. Eben solche Zwischenrufe aus der illiberalen Ecke sollten zu denken geben, genauer gesagt, sollten zur Mäßigung ermuntern.
Erstens: Verallgemeinerungen sind immer falsch. Nur, weil Einzelne das EU-Parlament missbrauchen, heißt das nicht, dass die Institution insgesamt faul wäre und dass sie damit auf die Müllhalde der Geschichte gehört. Eben die unverhohlene Häme aus Budapest zeigt, wessen Bettchen man damit machen würde. Im Klartext: Wenn Leute wie Orban ein Parlament auflösen wollen, dann, weil es offensichtlich stört. Und es stört, weil es eben solche Autokraten daran hindert, die Beschneidung der Freiheiten weiter voranzutreiben.
Zweitens: Wir sehen hier zwar einen Fehler im System; aber darin enthalten ist eigentlich der Beweis dafür, dass das System insgesamt funktioniert. Konkret: Nur in einer liberalen Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat kommen solche Skandale ans Licht; Skandale, die, wie im vorliegenden Fall, sogar an den Grundfesten einer ehrwürdigen Institution rütteln. Wenn man Vergleichbares nicht aus Diktaturen wie Russland oder China oder eben auch etwa aus Ungarn hört, dann bedeutet das nicht - um nicht zu sagen keinesfalls -, dass es dort keine Skandale gäbe. Nein! Dort gilt einfach nur die Maxime: Was nicht sein darf, das gibt es schlicht und einfach nicht. Anders gesagt: Dass die Justiz den Korruptionsskandal ans Licht gebracht hat, das ist der beste Beweis dafür, dass das System eben nicht so faul ist, wie es Populisten auf der rechten wie auf der linken Seite glauben machen wollen.
Was heißt das jetzt? Circulez, il n'y a rien à voir? Hier gibt's nichts zu sehen, gehen Sie bitte weiter? Natürlich nicht! Das EU-Parlament weiß selbst nur zu gut, dass seine Glaubwürdigkeit gerade einen regelrechten Sturzflug hingelegt hat, dass man jetzt im Glashaus sitzt und dass es sehr schwer sein wird, jetzt noch insbesondere Korruption oder Mängel in Sachen Rechtsstaatlichkeit in einigen Ländern anzuprangern. Aus Sicht des Parlaments ist das einfach nur dramatisch. Und genau deswegen weiß man im Halbrund auch, dass man jetzt dringend nachbessern muss, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Erste Dringlichkeitsmaßnahmen wurden bereits beschlossen. "Warum erst jetzt?", mögen sich Kritiker fragen. Nun, eine der möglichen Antworten klingt ernüchternd: Weil man bislang zu naiv war, weil man die kriminelle Energie, die manche an den Tag legen, um das Parlament zu beeinflussen, womöglich unterschätzt hatte.
Davon abgesehen: Kann man einen Skandal wie diesen in Zukunft zu hundert Prozent ausschließen? Die traurige Antwort lautet: Nein! Nicht, weil der Wille nicht da wäre. Der Hauptgrund ist, dass wir in einer offenen Gesellschaft leben, und niemand will eine Welt, in der Amtsträger auf Schritt und Tritt von Schlapphüten begleitet werden.
Das alles nur, um zu sagen: Die Verfehlungen Einzelner dürfen nicht dazu führen, dass man dem EU-Parlament, gar der EU insgesamt, mit einem Mal die Legitimität abspricht. Erst recht in der heutigen Zeit, in der sich die Welt wieder in Blöcke aufzugliedern scheint, ist die EU nicht etwa Teil des Problems, sondern mit Sicherheit Teil der Lösung. Und das gerade für ein kleines Land wie Belgien. Selbstreinigung tut Not, erst recht, wenn's zum Himmel stinkt. Aber man darf eben nicht das Kind mit dem Badewasser ausschütten.
Roger Pint
Wieder einmal werden nicht die richtigen Fragen gestellt... Warum unternimmt das Parlament nichts gegen den ausufernden Lobbyismus ? Warum verpflichtet das Parlament sich nicht selber zu mehr Transparenz? Wenn es wirklich nur einige schwarze Schafe gibt, dann sollten solche Vorschläge doch ohne Probleme angenommen werden...
Das grundlegende Problem ist nicht Transparenz, Kontrolle, Lobbyisten, Regeln etc. Die Denkweise ist das grundlegende Problem. Die besten Regeln und Kontrollmechanismen lassen sich umgehen von einem klugen Kopf. Wo ein Wille ist, ist ein Weg. So einfach ist das.
Sehr geehrter Herr Pint. Einzelfälle sind das garantiert nicht. Fragen Sie mal unsere Herrn MP Oliver Paasch oder Parlamentspräsident K-H Lambertz.... auch Herr P. Arimont und ex-EU Kommissar J-Cl Juncker, die haben Kenntnisse von anderen konzertierten Korruptionsverhalten, lokale und EU-weit, wo zwar anscheinend erst mal keine grossen Gelder geflossen sind, aber Einfluss und Macht und selbstdefinierte Gehälter tun auch ihres dazu. Herr MSE zeigt richtig auf, es beginnt im Kopf, wenn Ethik und Moral keine Elite-Werte mehr darstellen... weil sie sich nicht 'börsen-like 'in Geld-Wert ausdrücken. Ein belgisches Beispiel : die politisch organisierte und vom ONEM/LFA ausgeführte Unterschlagung von Sozialversicherungsrechten Grenzgänger-Arbeitslosen gegenüber im Rahmen der seit 2004 praktzierten 'chasse aux chômeurs', und das extrem laute konzertierte Stillschweigen von Politik und Ämtern dazu ! Was da obern in der EU passiert, können unsere lokalen dreimal besser, auf ihre Art und Weise !
Über Korruption lässt sich vortrefflich diskutieren und philosophieren. Ein weitläufiges Thema. Ich unterscheide zwischen legaler und illegaler Korruption. Im Prinzip ist jeder staatliche Zuschuss eine Form der Korruption. Durch eine Geldzuwendung beeinflusst man eine Entscheidung. Zum Beispiel die DG durch Zuschüsse an Gemeinden und Vereinen. Eine andere Form der Korruption ist die Vergabe von Ämtern und Würden. Die Aussicht auf ein "schönes Pöstchen" in einer Regierung oder Behörde ist auch eine Form der Bestechung.
Einflussnahme wird es immer geben. Auch mit der besten Transparenz. Wenn die Transparenz zum Ergebnis hat, daß Lobbyist Schmidt im EU-Parlament sehr einflussreich ist, dann nützt das Lobbyist Schmidt. Er kann mehr Honorar fragen von seinen Auftraggebern.
„EU-Kommissionschefin von der Leyen hat sich bestürzt über die Korruptionsaffäre geäußert. Der Skandal sei „unendlich schmerzhaft“ für das EU-Parlament, sagte sie im Deutschlandfunk.“
Warum befragt der öffentlich rechtliche Rundfunk Frau vdLeyen nicht intensiver zu den Korruptionsvorwürfen in Sachen Corona-Impfstoff? Die europäische Staatsanwaltschaft ermittelt doch auch.
Gilt die Korruption in den EU-Institutionen als Kavaliersdelikt?