Mann, Mann, Mann…! "On aura vraiment tout vu", sagt der Frankophone. Frei übersetzt: Es gibt wirklich nichts, was es nicht gibt. Die belgische Politik hat mal wieder tief in die Trickkiste gegriffen. Vielleicht zu tief, muss man allerdings sagen.
Erstmal ein Blick zurück: Wer ist schuld an dem Chaos? Da gibt es kein Vertun: Das ist die N-VA. Um es mal mit Kris Peeters zu sagen: Sie haben die Rote Karte gezückt, als die Mannschaften schon in der Umkleidekabine waren. Man kann nicht nach dem Ende eines Prozesses von zwei Jahren plötzlich fordern, dass Charles Michel sein Versprechen zurücknimmt, das er im Namen der Regierung vor der UN-Vollversammlung gemacht hatte. Die N-VA verlangte hier gewissermaßen, dass der Premierminister politischen Selbstmord verübt. Charles Michel, der auf frankophoner Seite längst als Handpuppe der N-VA durchging, dieser Charles Michel konnte in dieser Sache nicht zurückrudern. Zumal, wenn man sich anschaut, worum es hier ging. Gemeint ist hier weniger der Inhalt: Es ist und bleibt ein rechtlich nicht bindender Pakt, der in erster Linie einige Grundprinzipien noch einmal in Erinnerung ruft: Wahrung der Menschenrechte, internationale Kooperation. Wer behauptet, dieser Pakt zwinge die Staaten dazu, hordenweise Migranten aufzunehmen, der sagt die Unwahrheit, um nicht zu sagen: Er lügt.
Nein, entscheidend ist hier das Prinzip. Dieser Pakt ist, im Grundsatz, ein Bekenntnis zu einer multilateralen Welt, zu internationaler Zusammenarbeit, zur Nachkriegsordnung also, die uns nach den beiden Jahrhundertkatastrophen immerhin fast 75 Jahre Frieden beschert hat. Und eigentlich müsste es doch auch jedem einleuchten, dass kein Land die brennenden Probleme der heutigen Zeit alleine lösen kann. Die N-VA verlangte de facto, dass Belgien dem Chor beitreten sollte, in dem schon Orbans Ungarn, Salvinis Italien oder Trumps Amerika mitsingen. Belgien gehört nicht in diesen Club! Charles Michel hat recht, wenn er sagt: "Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte".
Muss man deswegen gleich eine Regierungskrise riskieren? Ja, notfalls muss man das! Denn, lange nicht mehr waren Werte so wichtig wie heute!
Die Entscheidung war, unterm Strich, richtig. Nur haben Charles Michel und seine orange-blauen Partner an diesem Wochenende dann doch ziemliches Neuland betreten. Mit ziemlich dünnem Eis. Sie wollen mit einer Minderheitsregierung weitermachen, die gerade mal über 52 Sitze verfügt von 150, das ist ein Drittel. Wenn man Michel I schon vor vier Jahren liebevoll "Kamikazekoalition" genannt hat, wie muss man dieses "Ding" denn jetzt nennen?
Zugegeben: Man kann das Ganze aus zwei Blickwinkeln sehen. Wenn man sich die Welt anschaut und ans Allgemeinwohl denkt, dann kann man dem Ganzen durchaus was abgewinnen. Nach dem Motto: Immerhin haben wir noch eine Regierung. Ein monatelanges Machtvakuum wäre unverantwortlich; außerdem wäre man wohl an Neuwahlen nicht vorbeigekommen, was dazu geführt hätte, dass wir zwei Mal innerhalb eines halben Jahres zu den Urnen gegangen wären. Nicht zu verkaufen! Zumal die Menschen ganz andere Sorgen haben, und die Politik in diesen Tagen distanzierter denn je erscheint.
Nachvollziehbar ist aber auch eine Reaktion nach dem Motto: "Was ist das denn jetzt? Glaubt Michel allen Ernstes, dass er damit durchkommt?" Eine Regierungskoalition mit 52 Sitzen? Da kann man nun wirklich nicht von einer demokratischen Legitimität sprechen. Wenn die N-VA so etwas machen würde, dann würde so mancher wohl von einem "Überfall auf die Demokratie" sprechen, vielleicht sogar von einem Staatsstreich.
Das Spiel ist hochriskant. Und, ohne in Verschwörungstheorien abgleiten zu wollen, aber in manchen Augen mag es zudem abgekartet wirken. Einige Zeitungen sprachen auch schon von einer "für alle gewinnbringenden Scheidung": Charles Michel hat die gelben Marionettenfäden durchgeschnitten. Und die N-VA kann ihre Paraderolle spielen: die der ewigen Opposition, wobei man immer noch punktuell einen Fuß in der Regierung hat und die Regierung "à la carte" aus der Opposition heraus unterstützen kann. Politisch gesehen ist die Butter und das Geld für die Butter.
All das, um zu sagen: Das Legitimitätsproblem dieser Regierung wird noch durch ein Wahrnehmungsproblem verstärkt. So nachvollziehbar und richtig der Wunsch nach Stabilität und Kontinuität auch sein mag, das sind keine guten Vorzeichen, die orange-blaue Koalition trägt im Moment sogar regelrecht ungesunde Züge.
Stehen wir also vor der Quadratur des Kreises? Nicht unbedingt! Denn: Wenn man ein Legitimitätsproblem hat, wie kann man das lösen? Indem man sich dort präsentiert, wo die Volksvertreter sitzen, wo das Herz der Demokratie schlägt. Klar: Im Parlament. Eine Minderheitsregierung setzt ohnehin voraus, dass die Regierungsparteien auf die Opposition zugehen, um eine Mehrheit zu finden. In der Hoffnung eben, dass die orange-blauen Koalitionäre sich nicht darauf beschränken, nur mit der N-VA die Köpfe zusammenzustecken. Wenn sich alle konstruktiv aufstellen, dann kann das Parlament endlich wieder die Rolle spielen, die ihm eigentlich zufällt: Die des tatsächlichen Gesetzgebers, und nicht, wie allzu oft, die einer Abnickkammer.
Und, da ist der jetzt eingereichte Antrag auf eine Vertrauensabstimmung eigentlich nur der logische Auftakt. Dass die Opposition jetzt verlangt, dass sich die neue Regierung dem Parlament präsentiert und sich auch einem Vertrauensvotum stellt, das mag vielleicht beim einen oder anderen mit bösem Willen zu tun haben. Es ist aber letztlich eine Frage der politischen Hygiene. Hat Premier Michel noch in der letzten Woche nicht selbst gesagt: "Die Verfassung ist kein Fetzen Papier"?
Und wenn's schiefgeht? Naja, dann geht es schief. Dann ist das der Wille des Parlaments. Hauptsache, man bleibt demokratisch sauber. Der Zweck heiligt nämlich nicht die Mittel.
Das Parlament trägt hier eine schwere Verantwortung. Im Grunde setzt das voraus, dass alle ein wenig "out of the box" denken, wie der Angelsachse sagt. Sprich: Wir brauchen jetzt Parlamentarier, die das Allgemeinwohl über die Parteiinteressen stellen. Wenn die Opposition sich auf ihre Rolle als Opposition versteift, wenn man sich darauf beschränkt, das zu tun, wovon man seit vier Jahren träumt, nämlich Charles Michel abzusägen, gut, dann muss man das tun. Nur muss man aufpassen, dass man damit nicht auch den Ast absägt, auf dem man selber sitzt. Das Legitimitätsproblem, das Wahrnehmungsproblem, das hat nämlich nicht nur die neue orange-blaue Regierung, das hat längst die gesamte politische Klasse. Ob sie es will oder nicht, aber die Opposition sitzt in gewisser Weise im selben Boot wie Charles Michel mit seiner orange-blauen Koalition.
Das Parlament hat als Institution in dieser Geschichte viel zu gewinnen. Die Politik hat in ihrer Gesamtheit noch viel mehr zu verlieren.
Roger Pint