Am 4. Juni wäre er 65 Jahre alt geworden: Marcel Cremer aus Crombach, Lehrer, Theatermacher, Autor und Gründer der Agora. Zum 40-jährigen Bestehen des Theaters der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist ein Buch erschienen, mit vielen unveröffentlichten Texten, Gedichten, Tagebucheinträgen und mit einer Einordnung dessen, was das Agora-Theater heute ausmacht.
Nach dem Tod von Marcel Cremer im Dezember 2009 hatte sich die Gruppe in Frage gestellt - und neue Antworten gefunden. Das Buch "Marcel Cremer und die Agora" hätte eigentlich bei Leseveranstaltungen in Berlin, Brüssel, St. Vith und Eupen vorgestellt werden sollen. Aufgrund der Einschränkungen durch die Corona-Krise haben die Mitglieder der Gruppe aus der Not eine Tugend gemacht: Sie geben ausgewählte Textauszüge als Online-Video wieder.
Corona-kompatible Kunstformen
„Das Digitale oder die Online-Präsentation kann nicht das Live-Erlebnis ersetzen", sagt Kurt Pothen, der Künstlerische Leiter des Agora-Theaters. "Trotzdem wollten, mussten und sollten wir präsent bleiben in dieser Zeit, wo unser eigentliches Kerngeschäft unmöglich ist: d.h. die Begegnung mit dem Zuschauer. Dann haben wir uns entschieden, alle Mitglieder corona-konform darum zu bitten, mit Texten aus dem Buch umzugehen und etwas zu lesen, zu gestalten, auf Video, um es dann auf facebook, Youtube, auf unserer Website zu veröffentlichen, um das Buch auch präsent zu machen.“
So zitiert Daniela Scheuren im Bahnhofsfahrstuhl ihrer Wahlheimat Würzburg aus Marcel Cremers Gedanken zur Heimat; Line Lerho deklamiert mitten im Wald "Ein Pferd aus Blau"; vom Hochsitz erzählt Roland Schumacher die tragikomische Geschichte "Im Wald ist schlechte Stimmung"; und Annika Serong verfremdet ihr Video durch Asynchronität von Bild und Ton. "Da sind sehr interessante künstlerische Formen entstanden", sagt Kurt Pothen, "die das Buch repräsentieren und einen Agora-spezifischen, individuellen, autobiographischen Zugang zeigen, gleichzeitig aber für die Zuschauer sind, für die Zuhörer, für die Leser."
Zum Vor- und Zurückblättern
Herausgegeben hat das Buch die Theaterwissenschaftlerin und -pädagogin Christel Hoffmann, eine lange Weggefährtin von Marcel Cremer und dem Agora-Theater: "Natürlich habe ich erst einmal alles reingenommen, was aussagekräftig ist und was mir gefiel. Das waren dann über 400 Seiten." Dann habe sie mit dem professionellen Blick der Dramaturgin auf das Material geschaut. "Vor allem habe ich dann die Struktur des Lesebuches erfunden zum Vor- und Zurückblättern."
Darum habe sie es auch nicht in Kapitel eingeteilt, sondern jeweils Verse von Marcel Cremer vorangestellt. "Weil ich mir nicht vorstellen konnte, das Leben zwischen zwei Buchdeckel zu pressen", sagt Christel Hoffmann. Und dann habe sie sich vorgestellt: "Wie wird ein Leser, der Marcel nicht gekannt hat, mit dem Buch umgehen."
Das Bild vom fahrenden Wagen
Dem Agora-Theater und Kurt Pothen ging es aber vor allem auch darum, die Texte in die heutige Arbeit einzuordnen. Darum beinhaltet das Lesebuch in einem ersten Teil Beiträge und Reflexionen namhafter Theaterkritiker zu aktuellen Stücken. "Wir wollen nicht eine Art Mausoleum mit diesem Buch kreieren", sagt Pothen. "Wir wollen Marcel Cremer nicht abhaken, nach dem Muster: Wir veröffentlichen jetzt seine unveröffentlichten Texte und das war’s dann. Sondern wie schaffen wir es, seine Gedanken, ihn als Gründer, als Theatermann, als Autor, als Regisseur, als Gründer einer Methode in den Kontext der Arbeit, wie wir sie heute machen, zu stellen.“
"No dog's ever pissed on a moving car". Das sei Marcel Cremers Lieblingszitat aus einem Interview mit Tom Waits gewesen, schreibt Kurt Pothen im Vorwort zu dem Lesebuch. In der Eröffnungsrede zum TheaterFest 2009, wenige Wochen vor seinem Tod, sagte der Agora-Gründer bei der symbolischen Stabübergabe selbst, "dass die Agora nicht in erster Linie eine Institution oder eine Einrichtung ist, sondern eine Bewegung."
Gründen ist etwas Neues gestalten
In der Rückschau sagt Kurt Pothen: „Die erste Phase war natürlich sehr stark von dem geprägt, was Marcel mit uns kreiert hat. Wie können wir das erhalten, wie können wir das auch weiterführen? Und in der zweiten Phase kam die Frage nach einer Veränderung, also wie kann eine Anpassung ohne diese zentrale Figur stattfinden, ohne dass es einen kompletten Bruch gibt, aber auch nicht, indem wir sagen: wir müssen jetzt so lange wie möglich das, was er mit uns kreiert hat, bewahren.“
Dann habe es die Öffnung zu anderen Theaterleuten von außen gegeben, zu Regisseuren wie Ania Michaelis oder Felix Ensslin, "wo es inhaltlich eine große Affinität gab". Aber es sei auch Vieles in Frage gestellt worden, so Pothen: "Geht es um das Bewahren? Oder um das, was Marcel als wirklich herausragende Arbeit geleistet hat: zu gründen, etwas Neues gestalten.“
Stephan Pesch