Manchmal sind die Worte am wichtigsten, die nicht gesagt werden... Der britische Premierminister Boris Johnson hatte den 15. Oktober zur "Deadline" erhoben. Am Donnerstag also ist für London ein Stichdatum: Aus Sicht Londons sollte das Abkommen über die künftigen Handelsbeziehungen eigentlich unter Dach und Fach sein. Ansonsten sehe er keine Perspektive mehr für einen Deal zwischen beiden Seiten.
"Deadline", "Frist", "Stichdatum", diese Worte hat im Vorfeld des Gipfels aber keine der wirklich zentralen Figuren fallenlassen. EU-Ratspräsident Charles Michel etwa und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnten diese "Frist" mit keinem Wort, sondern sie beteten schlicht die Tagesordnung herunter. Deutschland hat ja in diesem Halbjahr die Ratspräsidentschaft inne.
Zum Brexit gab's also keine aufgescheuchten Stellungnahmen, sondern allenfalls diplomatische Allgemeinplätze. "Wir wollen ein Abkommen, aber natürlich nicht um jeden Preis", sagte Merkel. "Es muss ein faires Abkommen sein, von dem beide Seiten profitieren können."
Gleiche Wettbewerbsbedingungen
Ratspräsident Michel wählte fast dieselben Worte: "Wir wollen ein Abkommen, ja! Wir wollen aber auch gleiche Wettbewerbsbedingungen garantieren. Hier geht es um Fairness, hier geht es um Jobs, hier geht es um die Einheit des Binnenmarktes".
"Level playing field", den Begriff hörte man häufiger in der Eingangshalle des Ratsgebäudes. Übersetzt bedeutet das eigentlich erstmal nur "gleiche Wettbewerbsbedingungen", aber genau hier liegt des Pudels Kern. Ganz grob gesagt: Wenn Großbritannien und die EU weiter partnerschaftlich und ohne große Hemmnisse Handel treiben wollen, dann müssen die Grundregeln auf beiden Seiten des Kanals dieselben sein.
Sprich: Es kann nicht sein, dass Großbritannien etwa einseitig Unternehmen mit Staatsbeihilfen unterstützt, die in der EU nicht erlaubt wären, oder, dass London soziale oder Umweltnormen herabsetzt. Damit würde eine unlautere Konkurrenz vor der Haustüre entstehen; und dann haben wir eine andere Situation.
Am deutlichsten machte das der französische Staatspräsident Emmanuel Macron klar. Auch werde er es nicht zulassen, dass die französischen Fischer unter dem Brexit leiden müssen, sagte Macron. Fischerei sei jetzt nicht wirklich eine Priorität seines Landes, sagte augenzwinkernd der luxemburgische Premier Xavier Bettel. Aber, darum gehe es hier nicht. Hier gehe es um innereuropäische Solidarität. Jedes Thema ist wichtig, mal für den einen, mal für den anderen. Am wichtigsten sei aber, dass die 27 EU-Staaten geschlossen zusammenstehen.
Diesen Eindruck haben sie jedenfalls im Vorfeld des Gipfels schon einmal vermittelt. Die Botschaft lautete, wenn auch unausgesprochen: "Wir lassen uns hier nicht verrückt machen; und auch nicht unter Druck setzen".
Kein Abkommen möglich
Am deutlichsten sagte es am Ende wieder der französische Präsident: Wenn die Bedingungen der EU-Staaten nicht erfüllt werden, nun gut, dann ist es möglich, dass es am Ende eben kein Abkommen gibt. "Wir haben uns darauf vorbereitet, wir sind bereit."
Johnson hatte im Vorfeld bereits der EU-Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen am Telefon gesagt, dass er den Ausgang des Gipfels abwarten wolle, bevor er über das weitere Vorgehen entscheide. Nun, einige Antworten dürfte er bereits bekommen haben. In Brüssel haben jedenfalls alle die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass man sich am Ende doch noch einigen wird.
Mehr europäische Koordination in der Pandemie
Der Brexit ist im Übrigen auch nicht der einzige Tagesordnungspunkt. Natürlich werden die Staats- und Regierungschefs auch über die Corona-Pandemie sprechen. Die meisten Länder sind ja längst wieder im Krisenmodus. "Wir müssen für bessere innereuropäische Koordination sorgen", sagte Ratspräsident Charles Michel. Die Tests, das Tracing, die Quarantäneregelungen, all das müsse harmonisiert werden.
Natürlich hat die Bekämpfung der Corona-Krise oberste Priorität. Bei alle dem dürfe man aber auch den Klimaschutz nicht vergessen, waren sich viele einig. Die EU-Kommission hat ehrgeizigere Ziele in den Raum gestellt: 55 Prozent weniger Treibhausgase schon bis 2030. Darüber wird bei diesem Gipfel noch keine Entscheidung fallen, aber die deutsche Ratspräsidentschaft will bis Dezember auf eine Einigung in diese Richtung hinarbeiten. Alles in allem also ein vollgepacktes Programm, wie auch Angela Merkel sagte: "Wir haben wichtige Dinge zu beraten".
Von der Leyen verlässt EU-Gipfel und geht in Corona-Quarantäne
Roger Pint