"Ein Schritt nach vorne in die richtige Richtung", sagt der noch amtierende Premier Charles Michel. Wobei die Frage erlaubt sei, ob es auch einen Schritt nach vorne in die falsche Richtung geben kann. Aber, gut: "Positiv" sei der neuerliche Brexit-Deal also. Jetzt allerdings müsse das britische Parlament noch zustimmen. Und da bleibe man bei allem Optimismus dann auch zugleich realistisch und vorsichtig. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass das britische Parlament einen Deal ablehnen würde.
Genau gesagt hat das britische Unterhaus schon drei Mal einen Deal verworfen. Das war noch unter der Premierministerin Theresa May. Inzwischen heißt der Regierungschef Boris Johnson. Doch ob sich der Inhalt seines Deals so grundlegend von dem Text seiner Vorgängerin unterscheidet, das sei dahingestellt.
Knackpunkt Nordirland
Knackpunkt ist und bleibt Nordirland. Der protestantische Teil der Grünen Insel wird zwar auch in Zukunft noch zu Großbritannien gehören, nur wird auch nach dem neuen Deal für Nordirland eine Sonderregelung gelten. Genauer gesagt bleibe die Region in einer speziellen Zollpartnerschaft mit der EU. Und dieser Sonderstatus, da sind sich Experten einig, kann der Beginn eines Auseinanderdriftens des Vereinigten Königreiches sein. Als Boris Johnson noch nicht Premier war, also noch vor einigen Wochen, da hätte eben dieser Boris Johnson eine solche Regelung in der Luft zerrissen. Das ist keine bloße Annahme, er hat es seinerzeit selbst gesagt.
Jetzt sieht die Sache aber anders aus. Johnson wird jetzt natürlich für diesen, "seinen" Deal, werben, ihn verkaufen müssen. Er hoffe doch sehr, dass die Abgeordneten in Westminster jetzt diesem exzellenten Abkommen zustimmen werden, um den Brexit ohne weitere Verzögerung Wirklichkeit werden zu lassen.
Aus dem ehrwürdigen Westminister-Palast, wo ja das britische Parlament tagt, hört man aber seit Donnerstag eigentlich nur Misstöne, allen voran von den nordirischen Unionisten. Diese DUP-Partei ist eigentlich der Koalitionspartner von Johnsons Torys. Und die DUP hat gleich gesagt, dass sie das Abkommen nicht unterstützen will. Grund ist eben das Doppelstatut, das der Deal vorsieht.
Opposition gegen den Deal
Die Nordiren fühlen sich offensichtlich von Johnson regelrecht verraten. Die Opposition ist auch eher geschlossen gegen den Deal: Die Labourpartei wird wohl schon allein aus parteipolitischen Gründen gegen den Deal stimmen. Und die Liberaldemokraten sind inzwischen sogar für einen "Exit vom Brexit". Beobachter sind sich einig, dass es für Johnson sehr schwierig wird, eine Mehrheit für seinen Deal zusammenzubekommen. "Sehr schwierig", das ist eigentlich der diplomatische Begriff für "unwahrscheinlich".
Und auch in Brüssel weiß man das freilich auch. Nachdem die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden EU-Staaten den Deal gebilligt hatten, sind jedenfalls bestimmt nicht die Sektkorken geflogen. Der litauische Präsident Gintanas Nauseda plauderte am Freitagmorgen aus dem Nähkästchen. "Wir haben die meiste Zeit damit verbracht, die Szenarien A, B, C und D zu diskutieren", sagte er; heißt: Man hat eben auch schon andere mögliche Alternativen vorsichtshalber mal durchexerziert.
Von offizieller EU-Seite hört man dazu natürlich nichts. Charles Michel ist ja quasi schon in diese Kategorie zu zählen. In ein paar Wochen wird er ja der neue EU-Ratspräsident. Und Michel übte sich am Vormittag schonmal in diplomatischen Formulierungen: Er habe nicht die Absicht, dem Abstimmungsergebnis im britischen Parlament vorzugreifen, sagte Michel. Er stelle sich jedenfalls keine Fragen nach dem Motto "Was wäre, wenn?". Jetzt seien erstmal die Parlamente am Zug, das britische Unterhaus und auch das EU-Parlament.
Gleiche Töne von der designierten zukünftigen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Schon allein aus Respekt vor dem britischen Parlament werde man jetzt nicht aus Brüssel die Lage kommentieren, sagte von der Leyen. Und man wolle auch nicht vorgreifen. "Erst hören wir auf das, was das Westminster zu dem Deal zu sagen hat."
Roger Pint