Nach einem turbulenten Tag in London mit mehreren Rücktritten aus dem Kabinett scheint das kürzlich vorgestellte Brexit-Abkommen auf der Kippe zu stehen. Die britische Premierministerin Theresa May verteidigte den Deal zwar energisch, doch es ist unklar, wie sie dafür eine Mehrheit im Parlament erreichen will. Möglich ist auch, dass sie sich einer Misstrauensabstimmung in der eigenen Fraktion stellen muss. Trotzdem kündigte May an, an dem Abkommen festzuhalten. "Ich glaube mit jeder Faser meines Seins, dass der Kurs, den ich vorgegeben habe, der richtige für unser Land und unser ganzes Volk ist", sagte sie bei einer Pressekonferenz am Donnerstagabend.
Mit Spannung wurde erwartet, wen May als Nachfolger für den am Donnerstag zurückgetretenen Brexit-Minister Dominic Raab präsentieren wird. Nach Angaben des Senders BBC aus der Nacht zum Freitag habe Umweltminister Michael Gove ein Angebot abgelehnt, da May seine Bedingung zu Änderungen des Brexit-Deals zurückgewiesen habe. Der eingefleischte Brexit-Anhänger Gove gilt auch als Wackelkandidat für einen möglichen weiteren Rücktritt.
Neben Raab hatte auch Arbeitsministerin Esther McVey ihr Amt niedergelegt. Es wird nicht ausgeschlossen, dass noch weitere Minister folgen. Erst am Mittwochabend hatte May ihrem Kabinett nach fünfstündiger Debatte die Zustimmung zu dem Entwurf abgerungen. Doch die Einigkeit war nur von kurzer Dauer. Bei der Vorstellung des Abkommens im Parlament war May am Donnerstag heftiger Widerstand entgegengeschlagen. Von allen Seiten hagelte es Kritik.
Nicht nur die Opposition kündigte an, den Deal abzulehnen, sondern auch die nordirische DUP, auf die Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, sowie große Teile ihrer eigenen Fraktion. Das Unterhaus wird aber wohl erst im Dezember über das Abkommen abstimmen. May warnte, den Deal abzulehnen. Das bedeute, "einen Weg tiefer und schwerwiegender Unsicherheit einzuschlagen".
May droht eventuell auch noch eine Misstrauensabstimmung in ihrer Konservativen Fraktion. Der einflussreiche Tory-Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg sprach der Premierministerin sein Misstrauen aus. Damit die Abstimmung stattfindet, sind 48 entsprechende Briefe von Parlamentariern aus Mays Partei notwendig. Diese Zahl war Medien zufolge bereits seit Monaten beinahe erreicht. Rees-Mogg steht einer Gruppe von rund 80 Brexit-Hardlinern in der Fraktion vor. Unklar ist, ob die Gruppe May wirklich stürzen kann. Sie braucht dafür eine Mehrheit der 315 konservativen Abgeordneten. Eine Misstrauensabstimmung kann nur einmal pro Jahr stattfinden. Sollte May als Siegerin hervorgehen, wäre ihre Position zunächst gefestigt.
Aus Sicht der EU-Kommission haben die Rücktritte in London keine unmittelbaren Folgen für den Abschluss der Brexit-Verhandlungen. May sei selbst Verhandlungsführerin ihrer Regierung, sagte Kommissionssprecher Margaritis Schinas in Brüssel. "Unsere Verhandlungspartner sind May und die britische Regierung."
EU-Ratspräsident Donald Tusk berief einen Sondergipfel ein, um den Austrittsvertrag unter Dach und Fach zu bringen. Das Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs soll am 25. November in Brüssel stattfinden.
Regierungskrise in Großbritannien: Mehrere Minister zurückgetreten
dpa/cd/est