Die bekannteste Musik aus Gioacchino Rossinis Oper "Guillaume Tell" hört man gleich zu Beginn, in der Ouvertüre. Der Rest der Oper ist dem "Durchschnitts"-Musikliebhaber bei weitem nicht so geläufig, denn das Stück gehört nicht zu Rossinis meistgespielten Werken, anders als beispielsweise der "Barbier von Sevilla".
Hintergrund der Handlung ist der Freiheitskampf der Schweizer gegen die habsburgischen Besatzer im 14. Jahrhundert. Hauptfigur ist Wilhelm Tell, der Anführer der Schweizer und ein begnadeter Armbrustschütze. Jeder kennt wohl die Geschichte von dem Apfel, den Wilhelm - oder Guillaume, denn Rossini hat die Oper auf französisch geschrieben - vom Kopf seines Sohnes schießen muss.
Als roter Faden durch die gesamte Oper zieht sich also die Auflehnung eines unterdrückten Volkes gegen seine Unterdrücker. Die Idee von Freiheit in Meinungsäußerung und Selbstbestimmung ist in der gesamten Oper sehr stark anwesend, wie der Dirigent der Lütticher Produktion, Stefano Montanari, erklärt.
Rossini war 37, als er sich entschieden hat, nur noch eine letzte Oper zu komponieren, dementsprechend wollte er etwas Großes hinterlassen und schuf mit "Guillaume Tell" den Prototyp der französischen "Grand Opéra". Eine ganz besondere Eigenheit ist, dass der Chor in dieser Oper quasi ständig mit eingebunden wird: Es wird gesungen, was das Zeug hält, sei es als unterdrückte Schweizer Dorfbewohner, als Kämpfer in der Volksarmee oder als kaiserliche habsburgische Soldaten.
Ein großes Kompliment gebührt hier dem Chor der Lütticher Oper, der diese Mammutaufgabe sehr gut gemeistert hat, nicht nur gesanglich, sondern auch schauspielerisch. Aber auch sonst kommen Liebhaber von Gesang in der Oper wirklich voll auf ihre Kosten - es gibt nach der Ouvertüre kaum Momente, in denen nicht gesungen wird, und die Hauptdarsteller stehen selten alleine auf der Bühne, meist zu zweit, zu dritt oder gemeinsam mit dem Chor.
Eine Ausnahme bildet da die Solo-Arie des Arnold im vierten Akt, die mit zum schwierigsten gehört, was ein Tenor im gesamten Opernrepertoire zu singen hat. Großes Lob gebührt hier dem Amerikaner John Osborn, der diese Rolle mit Bravour meistert. Aber auch alle anderen Solisten singen und schauspielern hervorragend, und das Orchester musiziert auf gewohnt hohem Niveau.
Die Regie liegt übrigens in den Händen eines alten Bekannten der Lütticher Oper: Der ehemalige Direktor des Hauses Jean-Louis Grinda inszeniert den "Guillaume Tell" relativ schlicht, aber durchaus effizient, und die Botschaft des Strebens nach Freiheit wird mehr als deutlich herübergebracht. Leider gibt es nur noch eine einzige Vorstellung von "Guillaume Tell" in Lüttich, Kurzentschlossene sollten sich also beeilen - es lohnt sich auf jeden Fall.
Patrick Lemmens