Vor Beginn der neuen Saison hatte der Intendant der Lütticher Oper, Stefano Pace, eine "Traviata" angekündigt, die so sein würde, wie eine Traviata-Inszenierung sein sollte. Bei der Premiere am vergangenen Freitag wurde deutlich, was er damit meinte: Ein überschäumendes Fest voller Farben und Licht, mit prächtigen Kostümen und unzähligen Mitwirkenden auf der Bühne, die die Lebensfreude und ungezügelte Frivolität der Pariser Bevölkerung im 19. Jahrhundert auch optisch auf die Bühne bringen.
Gemeint ist hier natürlich die sogenannte "bessere Gesellschaft" aus Paris, denn die Handlung stellt eine Kurtisane namens Violetta in den Mittelpunkt, die rauschende Feste gibt und den Männern der "Haute Volée" reihenweise den Kopf verdreht. Aber das ist alles Show und Fassade - wahre Liebe kennt Violetta nicht. Da muss erst ein Verehrer namens Alfredo aus der langen Reihe ihrer oberflächlichen Bewunderer heraustreten und wirklich ihr Herz erobern. Ihr gemeinsames Glück währt aber nicht lange, denn Violetta leidet an Tuberkulose und kann dem schleichenden Tod durch diese Krankheit am Ende nicht entkommen.
Giuseppe Verdi schrieb "La Traviata" im Jahr 1853, auf der Grundlage des Romans "Die Kameliendame" von Alexandre Dumas dem Jüngeren. Zu der Zeit war es ein Skandal, dass eine Kurtisane - also eine Prostituierte - zur Hauptperson einer Oper gemacht wurde. Die Premiere von "La Traviata" war darum auch alles andere als ein Erfolg, und erst nach einigen Korrekturen wurde sie zu dem Kassenschlager, der sie heute ist - vor allem auch wegen der zahlreichen Hits, die Verdi in seinem Werk aneinanderreiht.
Die Inszenierung von "La Traviata" in Lüttich liegt in Händen von Thaddeus Strassberger, einem Amerikaner, der zum ersten Mal an der Königlichen Oper der Wallonie zu Gast ist. Und amerikanisch extravagant kommt auch seine "Traviata" daher, sehr extrovertiert, optisch überschäumend, dabei zeitlos, denn zwischen die Kostüme aus den Pariser Cabarets mischen sich auch Broadway-Outfits aus den 1950er Jahren und die entsprechende Bühnendekoration, und auch ein gutes altes Kabeltelefon kommt zum Einsatz.
Musikalisch wird die Lütticher Oper allem gerecht, was sie an Qualitätsansprüchen in den letzten Jahren aufgebaut hat: Ein tolles Orchester unter der Leitung von Chefdirigent Giampaolo Bisanti, der sich bei Verdis Musik wie ein Fisch im Wasser fühlt und die tiefsten Emotionen aus seinem Klangkörper herausholt. Eine hervorragende Solistentruppe, allen voran Irina Lungu als Violetta und Dmitry Korchak als ihr Geliebter Alfredo. Atemberaubende Kostüme von Giuseppe Palella und eine Bühnendekoration, die weit über Lüttich hinaus ihresgleichen sucht.
Bei der Premiere von "La Traviata" war übrigens auch Königin Mathilde anwesend, und während ihre Autokolonne pünktlich am Opernhaus ankam, war für die normalen Opernbesucher der Feierabendverkehr so mühsam, dass viele von ihnen noch ihre Sitzplätze suchen mussten, als auf der Bühne schon das Vorprogramm lief - die ewige Baustelle der Lütticher Tram ist ja mittlerweile aus dem Zentrum verschwunden, aber viel geholfen hat es anscheinend noch nicht. "La Traviata" steht in der Königlichen Oper der Wallonie noch bis zum 24. September auf dem Programm - für jeden Musikliebhaber ist diese prächtige und mitreißende Produktion empfehlenswert.
Patrick Lemmens