Zum Abschluss der Saison 2022-23 haben sich die Verantwortlichen der Königlichen Oper der Wallonie etwas ganz besonderes einfallen lassen. Wir haben ja in dieser Spielzeit in Lüttich eine ganze Reihe von Werken entdecken können, die mehr oder weniger unbekannt sind oder zumindest sehr selten gespielt werden. "Dialogues des Carmélites" ist da insofern keine Ausnahme, als die Oper zuletzt vor knapp 20 Jahren in Lüttich auf dem Programm stand. Unbekannt ist das Werk dennoch nicht wirklich, denn unter den wenigen Opern von Francis Poulenc ist sie sicherlich die populärste.
Die ersten Takte geben schon den dramatischen und intensiven Ton vor, der die Zuhörer bis zum allerletzten leisen Akkord des Stücks nicht mehr loslassen wird. Poulenc schrieb die "Dialogues des Carmélites" 1956, und die Tonsprache ist sehr bildlich, fast wie Filmmusik. Das kommt nicht von ungefähr, denn Grundlage der Handlung ist ein Theaterstück, das wiederum auf dem Drehbuch für einen Film beruht, der allerdings nie produziert wurde.
Die Oper erzählt eine auf wahren Ereignissen beruhende Geschichte aus der Zeit der Französischen Revolution, an deren Ende 16 Nonnen des Karmelitinnenklosters von Compiègne als Märtyrerinnen für ihren Glauben zum Tode verurteilt und durch die Guillotine hingerichtet werden. Die gesamte Handlung steuert auf diese Apotheose hin, und dementsprechend intensiv ist auch die Musik gehalten, wie Speranza Scappucci, die Dirigentin der aktuellen Produktion erklärt.
Das Orchester spielt vor allem eine begleitende Rolle, weil es in dieser Oper so unglaublich viel Text gibt. Dabei ist die Musik von Poulenc aber extrem wichtig und nötig. Sie ist reich an Klangfarben und Emotionen, und sie trägt enorm dazu bei, dass der Zuschauer sich in der reichlich deprimierenden Handlung zurechtfindet; schließlich geht es bei "Dialogues des Carmélites" um Angst, Vertreibung, Tod, Läuterung und Hingabe. Das Orchester spielt unter der Leitung von Speranza Scappucci wie gewohnt hervorragend, allerdings könnte die Lautstärke in manchen begleitenden Passagen noch ein wenig mehr zurückgenommen werden, um den Text besser zu verstehen.
Die Regie in Lüttich führt übrigens ebenfalls eine Frau, die Französin Marie Lambert-Le Bihan. Sie sorgt für ein zeitloses Ambiente mit einem starken Fokus auf die inneren Konflikte und das Pflichtbewusstsein der Hauptfiguren. Marie Lambert-Le Bihan legt großen Wert auf die schauspielerischen Leistungen aller Sängerinnen und Sänger; das verwundert nicht, da das Vorbild der Oper ja ein Theaterstück war. Und diese Bühnenleistungen sind hervorragend, genau wie die stimmlichen Qualitäten vor allem der zahlreichen weiblichen Solisten.
Alles in allem ist die aktuelle Produktion in Lüttich vielleicht nichts für zarte Seelen, aber allemal ein musikalischer Leckerbissen, den eingefleischte Opernfans sich nicht entgehen lassen sollten.
Patrick Lemmens