Feierlich geht es zu Beginn der Oper "Hamlet" von Ambroise Thomas zu. Gefeiert wird am Königshof von Dänemark, und zwar die Hochzeit von Claudius, dem Bruder des vor Kurzem verstorbenen Königs, mit dessen Witwe, der ehemaligen Königin und Mutter des Prinzen von Dänemark, Hamlet. Prinz Hamlet ist empört darüber, dass seine Mutter so kurz nach dem Tod ihres Gemahls schon wieder heiratet. In seiner Trauer sucht er Trost bei seiner Geliebten Ophélie, aber in der Nacht erscheint ihm der Geist seines Vaters.
Der erklärt Hamlet, dass er von seinem eigenen Bruder vergiftet wurde und erteilt ihm den Auftrag, seinen Tod zu rächen und Claudius zu töten. Im Lauf der Oper widmet Hamlet sich immer mehr dieser Aufgabe und entfremdet sich dadurch von Ophélie, die schließlich aus enttäuschter Liebe Selbstmord begeht. Am Ende ersticht Hamlet seinen Onkel und rächt damit seinen getöteten Vater. Daraufhin wird er selbst durch das Volk zum König von Dänemark proklamiert.
"Hamlet" ist wohl die bekannteste Tragödie William Shakespeares, und unzählige Theaterstücke, Opern, Ballette und - in moderneren Zeiten - auch Spielfilme basieren sich auf diesen Stoff, der Intrige und Macht, Selbstzweifel und Rache, aber auch politische Elemente miteinander verbindet.
Der französische Komponist Ambroise Thomas hat gemeinsam mit den beiden Librettisten Jules Barbier und Michel Carré im Paris des Jahres 1868 eine Oper geschrieben, die sich so einige Freiheiten mit Shakespeares Original erlaubt. Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass bei Shakespeare Hamlet am Ende stirbt und bei Ambroise Thomas als König von Dänemark sozusagen der große Gewinner ist. Die Grundzüge der Handlung sind aber die gleichen, und auch bei Ambroise Thomas finden wir Prinz Hamlets berühmteste Frage.
"Être ou ne pas être" - Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. So ähnlich lautete auch die Frage im Oktober 2020, als Hamlet zum ersten Mal überhaupt in der Lütticher Oper programmiert war. "Spielen oder nicht spielen" war damals die Abwägung, und am Tag der Generalprobe kam dann aus Brüssel die Entscheidung, wegen Covid-19 alle kulturellen Aufführungen sofort zu untersagen und den zweiten Lockdown auszurufen.
Zweieinhalb Jahre mussten die Akteure und auch das Publikum warten, bis sich am vergangenen Sonntag endlich der Vorhang zur Premiere heben konnte. Und wie schon bei den bisherigen Opernproduktionen der aktuellen Saison wurde das Lütticher Publikum auch diesmal wieder mit einer ganz besonderen Aufführung verwöhnt.
Zum einen ist da die Musik: Ambroise Thomas war zu seinen Lebzeiten einer der bekanntesten französischen Opernkomponisten, aber im 20. Jahrhundert geriet seine Musik fast völlig in Vergessenheit. Die Musik zu "Hamlet" ist opulent, dramatisch und passend zur tragischen Handlung allgemein in einem dunklen Ton gehalten. Dabei macht Ambroise Thomas aber auch Gebrauch von solistischen Musikern. So hat er unter anderem eines der längsten Posaunensolos der Operngeschichte eingebaut, und zum allerersten Mal überhaupt in einer Oper ein ganz neues Instrument verwendet: das Saxophon.
Der Star des Abends war am Sonntag aber ganz klar der Bariton Lionel Lhote. Der Belgier ist mittlerweile nicht nur ein Weltklasse-Sänger, sondern auch ein toller Schauspieler. Und das ist hier auch nötig, denn Regisseur Cyril Teste hat eine Inszenierung konzipiert, in der Videoproduktion und Live-Kamerabilder von der Handlung auf der Bühne eine wichtige Rolle spielen. Da werden die Gesichter der Solisten in Großaufnahme auf eine Leinwand projiziert, sodass man jedes Augenzwinkern und jedes Mundwinkelzucken der Protagonisten erkennen kann - wie bei einem Kinofilm.
Das ist auch das Ziel von Cyril Teste: die drei Ebenen Kino, Theater und Oper miteinander zu verbinden und ein optisches Gesamtkunstwerk zu schaffen. Aus diesem Grund ist auch das Bühnenbild sehr einfach und kahl gehalten, die Kostüme im Allgemeinen schwarz/weiß und in der Gegenwart angesiedelt. Alles wirkt optisch sehr modern, aber der Kontrast mit der über 150 Jahre alten Musik funktioniert hervorragend.
Musikalisch ist neben Lionel Lhote auch die Belgierin Jodie Devos hervorzuheben, die mit ihrer glockenklaren Stimme als Ophélie das Publikum verzaubert. Dass Opernsänger auch nur Menschen mit Anfälligkeit für Erkrankungen sind, musste der Darsteller von König Claudius, Nicolas Testé, erfahren: Er kämpfte sich trotz leichter Erkältung durch die Vorstellung und konnte als Bösewicht überzeugen.
Dirigent Guillaume Tourniaire leitet das tolle Lütticher Orchester sicher durch die ungewohnte Partitur, und bis auf einige rhythmische Unstimmigkeiten zu Beginn lieferte auch das Chor-Ensemble eine solide Leistung ab. Fazit ist also: Wer noch keine Karte für die Lütticher Produktion "Hamlet" hat, der sollte sich schnellstens eine besorgen, denn wer weiß, wann diese so selten gespielte Oper in unserer Gegend noch einmal gegeben wird.
Patrick Lemmens