Nach der EM sei die Entscheidung in ihrem Kopf gefallen, sagte Nina Derwael im lockeren Plauderton vor der versammelten Presse in Gent. Und irgendwie wirkte sie dabei auch erleichtert, denn die Weltklasseturnerin lässt jetzt ein Leben hinter sich, das vor allem von Entbehrungen und harter Arbeit geprägt war.
Aber auch von sehr vielen sehr schönen Erfolgen. Insgesamt elf internationale Medaillen hat die geborene Limburgerin gewonnen, davon acht goldene. Viermal wurde sie Europameisterin, zweimal Weltmeisterin, Höhepunkt ihrer Karriere war aber ihr Olympia-Gold 2021 in Tokio in ihrer Paradedisziplin, dem Stufenbarren. Dieses Gerät liebte sie besonders, hier konnte sie wirklich zeigen, was sie draufhatte. Ein von ihr bei den Weltmeisterschaften 2017 in Montreal gezeigtes Element am Stufenbarren ist unter anderem nach ihr benannt.
Das alles nur, um zu sagen: Nina Derwael gehört zu den ganz wenigen belgischen Athleten, die wirklich die Weltspitze erreicht haben.
Nach ihrem Olympiasieg in Tokyo musste sie aber ein tiefes Tal durchqueren. Derwael verletzte sich an der Schulter, musste operiert werden. Mit eisernem Willen kämpfte sie sich innerhalb nur weniger Monate wieder zurück und konnte sich sogar für die Olympischen Spiele in Paris qualifizieren. Zwar mit Ach und Krach, aber das hatte man eigentlich nicht für möglich gehalten.
Für eine Medaille hat es am Ende aber dann doch nicht gereicht, das wäre wirklich einem Wunder gleichgekommen. Und doch wollte es Nina Derwael noch einmal wissen: Sie bereitete sich wie besessen auf die Europameisterschaften vor, die Ende Mai dieses Jahres in Leipzig stattfanden. Und da hat sie es nochmal sich und der Welt bewiesen: zweimal Gold! Einmal - natürlich - am Stufenbarren, und dann nochmal am Schwebebalken. Eine fantastische Leistung und der Lohn für die harte Arbeit nach ihrer Verletzung. Mission erfüllt, Ziel erreicht!
Doch dann war das Feuer irgendwie erloschen. "Sich jetzt wieder neu motivieren? Wofür eigentlich noch?", hat sich Derwael gefragt, und das, wie sie sagt, schon in Leipzig. "Ich habe alles gewonnen, was ich gewinnen konnte", sagte Derwael in der RTBF. Es gebe eigentlich nichts mehr, was sie der Welt oder sich selbst noch beweisen könne.
Wenn die Motivation nicht mehr zu hundert Prozent da ist, dann wird es im Leistungssport natürlich schwierig. Sie habe sich zurückgekämpft, sie habe noch einmal zwei Goldmedaillen bei Europameisterschaften gewonnen, sagte Nina Derwael in der VRT. Und dann habe sie in ihrem Kopf eine Abwägung vorgenommen. Und dabei sei sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nicht mehr länger körperlich und physisch verausgaben wolle.
Man sollte ja auch eigentlich aufhören, wenn es am schönsten ist, hat sich Nina Derwael dann gesagt. Sie habe immer gehofft, ihre Laufbahn auf einem Höhepunkt beenden zu können, in einem Moment des Erfolgs. Wenn sie realistisch in die Zukunft blicke, dann komme sie zu dem Schluss, dass es wohl keinen schöneren Zeitpunkt mehr geben werde als den jetzigen.
Derwael ist gerade 25 geworden. Bei den nächsten Olympischen Spielen in drei Jahren wäre sie also schon 28. Und vor allem im Turnsport gehört man dann oft schon zum alten Eisen. Hinzu kommt: Auch privat standen im Leben von Nina Derwael schon die Zeichen auf Veränderung. Gerade erst am vergangenen Samstag hat sie ihren Thibau geheiratet.
"Nein! Ich bin nicht schwanger", antwortete sie auf eine Journalistenfrage. Das sei nicht der Grund für ihre Entscheidung gewesen. "Kinder, das ist für später", sagt sie lachend. Erstmal wollen wir noch ein bisschen unser Leben genießen.
Und wie geht es beruflich weiter? "Mal schauen", sagt Nina Derwael. Erstmal will sie ihr Studium beenden, parallel dazu macht sie auch den Trainerschein. Vielleicht bleibt sie dem Verband also in der einen oder anderen Form erhalten. Entsprechende Gespräche laufen schon. "Dieser Sport bleibt natürlich auf immer in meinem Herzen."
Roger Pint