Die Rückblicke auf "50 Jahre Autonomie" haben schon deutlich gemacht: Es ging mitunter hoch her im Gemeinschaftsparlament oder im Kulturrat, wie er nach seiner Einsetzung 1973 zunächst hieß - vor allem dann, wenn die Vergangenheit der deutschsprachigen Belgier Thema war. "Vergangenheitsangst im Plenarsaal" hat der Eupener Historiker Christoph Brüll ein Kapitel in Band sechs der "Grenzerfahrungen" überschrieben und dabei einen politik- und emotionsgeschichtlichen Zugang gesucht.
"Es ist ja kein Geheimnis, dass gerade die Zwangssoldaten-Frage bis weit in die 80er Jahre ein wichtiges Thema war, wo auch Emotionen sehr deutlich artikuliert wurden", so Brüll. "Und es überrascht wahrscheinlich wenig, dass ich zu dem Ergebnis komme, dass die Emotionen deutlich abgenommen haben im Laufe der Zeit."
Gerade die Beschäftigung mit der jüngeren Zeitgeschichte birgt aber immer auch die Möglichkeit, dass diejenigen, die sie aktiv gestaltet haben, die nachträgliche Betrachtung durch die Historiker erfahren. Wobei es insgesamt nicht darum ging, sogenannte "Akteure" in den Vordergrund der Geschichtsschreibung zu stellen.
"Ganz einfach aus dem Grunde, dass das aufgrund der Enge und Kleinheit der Region zu ziemlichen Komplikationen geführt hätte. Der eine hätte sich zu Unrecht behandelt gefühlt, der andere wäre gern erwähnt worden und wird es dann nicht. So haben wir die Strukturgeschichtsschreibung in den Vordergrund gestellt", erklärt Brüll. "Natürlich gibt es Beiträge, wo bedeutende oder weniger bedeutende Akteure auch namentlich erwähnt und deren Handeln ausgeleuchtet oder analysiert wird. Aber das stand eigentlich nicht im Vordergrund."
24 Autoren haben sich für den Zeitraum ab Mitte der 70er Jahre mit verschiedenen Themen befasst: von der Entwicklung der Autonomie über die ostbelgische Wirtschaft bis zur Entwicklung der Mobilität und zum Thema Nachhaltigkeit.
"Es soll einen gesamten Überblick geben", erklärt Mitherausgeber Tobias Dewes vom Zentrum für Ostbelgische Geschichte (ZOG). "Das ist jetzt kein Spezialbuch, das sich nur einem einzelnen Thema widmet, sondern es soll den Leuten einen Überblick geben. Es soll auch anregen, weitere Fragen zu stellen, sich selber Gedanken zu machen. Deshalb müssen auch möglichst viele Bereiche angeschnitten werden."
Ein Kapitel, von Els Herrebout und Leonie Neuens, befasst sich etwa mit der Rolle der Frau in dieser Zeit ab 1973. "Die Frauen sind ab da auf dem Vormarsch", erklärt Dewes. "Nehmen wir das Beispiel der Politik: Da waren anfangs keine Frauen vertreten. Schauen wir uns heute mal um, etwa bei den Ministerposten oder bei den Parlamentariern selbst - es hat sich was getan."
Vorgestellt wird Band sechs der Reihe "Grenzerfahrungen" am 1. Dezember, um 18:30 Uhr, am Sitz des Ministerpräsidenten, Gospert 42.
Der Eintritt ist frei, wegen der begrenzten Zahl an Plätzen sollten sich Interessenten bis kommenden Montag (27. November) anmelden per Mail an valerie.sistig@dgov.be oder telefonisch unter 087/59.64.01.
Stephan Pesch