"Hallo Eupen ... Hubert Jenniges, sind Sie bereit?"
Ja, Hubert Jenniges war bereit an diesem 23. Oktober 1973. Es dürfte ihm sogar eine persönliche Genugtuung gewesen sein, die Einsetzung des ersten Rates der deutschen Kulturgemeinschaft (RdK) live kommentieren zu können. In seinem Buch "Hinter ostbelgischen Kulissen" hat er später offengelegt, dass er zwischen 1968 und 1972, also auf dem "Weg der deutschen Sprachgemeinschaft zur Kulturautonomie", wie eine seiner Radiosendungen hieß, öfter mal die Rolle des journalistischen Beobachters verlassen hatte.
Besonders im Kontakt zu dem flämischen Politiker Leo Tindemans, der einer Selbstbestimmung der deutschsprachigen Belgier aufgeschlossen gegenüberstand, hatte Jenniges einen politisch aktiven Part gespielt - pro Eigenständigkeit.
BHF überträgt und kommentiert live
Im BHF kommentierte Hubert Jenniges damals: "Heute am 23. Oktober erreicht die deutsche Sprach- und Kulturgemeinschaft auf dem Wege zur kulturellen Autonomie eine sehr wichtige Etappe. Heute, an diesem kühlen Oktobertag, werden wir hier in Eupen und Sie, meine Damen und Herren draußen an den Lautsprechern, die erste konstituierende Sitzung des neu geschaffenen Rats der deutschen Kulturgemeinschaft miterleben.
Auch hier im Haus des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft am Kaperberg Nr. 8 ist das schwere politische Klima spürbar, das zur Stunde im Brüsseler Regierungsviertel die Aufmerksamkeit der politischen Beobachter ganz beansprucht. Ich glaube, dass unter anderen politischen Zuständen dieser Einführungstag die volle Aufmerksamkeit der politischen Kommentatoren verdient habe. Die von Premierminister Leburton angekündigte Regierungsumbildung bricht dem heutigen Ereignis eigentlich die Spitze.
Staatssekretär Schyns wird also bis 24 Uhr heute noch im Amt bleiben, dadurch wird dem Staatssekretär die Möglichkeit geboten, die Sitzung des Rates zu eröffnen. Dadurch erhält aber auch die heutige Einführungssitzung, ich möchte fast sagen: eine dramatische Spitze und ein Relief, das politische Beobachter vor einigen Tagen überhaupt noch nicht erahnt hatten.
"Schlussstrich unter jahrelange Bemühungen"
Wir werden an diesem schon als historisch bezeichneten Dienstag mit der Einführung der 25 Mitglieder des Rates in ihr Amt feststellen, dass ein vorläufiger Schlussstrich in den jahrelangen Bemühungen zur Errichtung eines Kulturgremiums, einer Regionalversammlung mit kulturellen Befugnissen für die deutsche Sprachgemeinschaft gezogen wurde. Vorläufig ist das Tauziehen also über den Modus der Zusammensetzung und den Kreis der Befugnisse zu Ende, der für diese erste Regionalversammlung des deutschen Sprachgebiets vom Gesetzgeber gezogen wurde.
Staatssekretär Willy Schyns hat vorne Platz genommen am Präsidiumstisch. Er wird sogleich diese erste Ratssitzung eröffnen."
(Vierfaches Klopfen), Willy Schyns: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die große Ehre, Sie heute hier recht herzlich willkommen zu heißen und den ersten Rat der deutschen Kulturgemeinschaft einzuführen. Ich heiße Sie nochmals recht herzlich willkommen und hoffe, dass dieser Rat im Interesse unserer deutschsprachigen Bevölkerung recht gute Arbeit leisten wird. Wenn wir heute hier tagen, so ist dies besonders dem Ministerium für Öffentliche Arbeiten zuzuschreiben.
Darum möchte ich an erster Stelle den Beamten dieses Ministeriums einen herzlichen Dank sagen (Applaus), ebenso den Architekten, den Unternehmern und - ich möchte sagen - ganz besonders den Arbeitern, die auch nicht gescheut haben, über Nacht hier weiter zu schuften, damit unsere Räume so empfangsmöglich sind, wie es heute der Fall ist. Allen also einen recht herzlichen Dank und ich hoffe, dass dies ein gutes Omen sein wird, damit unser Rat auch konkret arbeiten kann."
Mitglieder nicht direkt gewählt
Die Mitglieder des ersten Kulturrates waren nicht direkt gewählt worden, wie es im Vorfeld gewünscht und gefordert worden war. Immerhin stand bereits fest, dass dies bei der folgenden belgischen Parlamentswahl der Fall sein sollte. Für den ersten RdK war ein Wahlmännergremium gebildet worden, das sich aus den Kandidaten und Ersatzkandidaten der vorangegangenen Parlaments- und Provinzialratswahl zusammensetzte.
Als provisorischer Sekretär verkündete Max Mockel, der in Brüssel zum Mitarbeiterstab von Staatssekretär Willy Schyns gehörte, die 25 Namen der ersten RdK-Mitglieder:
1) für die Gruppe der Wahlmänner der Kandidatenliste Nr. 6 (Christlich Soziale Partei): Herr Betsch Manfred, Herr Bindels Joseph, Herr Brüll Helmut, Herr Cremer Hubert, Herr Gehlen Albert, Herr Genten Herbert, Herr Huppertz Johann, Herr Keutgen Heinz, Herr Krafft Erich, Herr Mertes Emil, Herr Ortmann Kurt, Herr Schumacher Werner, Herr Weynand Johann
2) für die Gruppe der Wahlmänner der Kandidatenliste Nr. 2 (Partei für Freiheit und Fortschritt): Herr Cornely Hermann, Herr Dejozé Felix, Herr Fatzaun Josef, Herr Gentges Bernd, Herr Pip Heinz, Herr Reinertz Wilhelm
3) für die Gruppe der Wahlmänner der Kandidatenliste Nr. 8 (Sozialistische Partei Belgiens): Herr Cremer Jean, Herr Dupont Ferdy, Herr Pitsch August
4) für die Gruppe der Wahlmänner der Kandidatenliste Nr. 9 (Christlich-Unabhängige Wählergemeinschaft): Herr Krings Eugen, Herr Louis Michel, Herr Paasch Lorenz
Die Zahl der zu ernennenden Mitglieder pro Partei erfolgte auf der Grundlage der Wahlergebnisse bei den Kammer-, Senats- und Provinzialratswahlen von 1971. Diese Entscheidung benachteiligte die inzwischen gegründete Partei der deutschsprachigen Belgier (PDB): Sie war aus der CUW hervorgegangen, der Christlich Unabhängigen Wählergemeinschaft. Sie hatte bei den Senatswahlen 1971 auf eigene Kandidaten verzichtet, um dem CSP-Kandidaten Johann Weynand nicht zu schaden. Im Gegenzug fiel der Proporz für die anderen Parteien großzügiger aus.
Absolute Mehrheit für die CSP
Hubert Jenniges kommentierte im BHF: "So erhielt die CSP die absolute Mehrheit mit 13 Mitgliedern in diesem Rat. Die zweitstärkste Fraktion ist die der Partei für Freiheit und Fortschritt mit sechs Mandaten, während die PDB und die Sozialisten je drei Sitze erhielten. Diese Form der Zusammensetzung ist in der Vergangenheit vor allem auf Seiten der Partei der deutschsprachigen Belgier stark kritisiert worden.
Hier wurde vor allem die Errechnung der Stimmen in den vier deutschsprachigen Gemeinden des Kantons Malmedy und der Gemeinde Kelmis im Wahlkanton Aubel äußerst kritisch unter die Lupe genommen, weil angeblich keine positiven Kriterien bestehen, die zu einer genauen Ermittlung der mit wallonischen Stimmzetteln vermischten Stimmabgaben der deutschsprachigen Bevölkerung führen könnten. Es wurde auch moniert, dass seit den Wahlen von 1971 im deutschsprachigen Ostbelgien manche politische, ja parteipolitische Veränderung eingetreten ist.
Nun, wie dem auch sei, die Mitglieder des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft, die sogleich vereidigt werden, wodurch ihr Amt rechtskräftig wird; haben schon deswegen eine ganz besondere Verpflichtung und delikate Aufgabe. Sie müssen in den kommenden Wochen und Monaten zeigen, dass sie dieser ihnen anvertrauten Aufgabe gewachsen sind."
Auf der Tagesordnung der ersten Sitzung standen die Wahl eines Präsidiums, des Präsidenten, und des Generalsekretärs. Für diese Verwaltungsfunktion hatte die CSP, auch im Namen der Mitglieder des Präsidiums, Manfred Beckers vorgeschlagen, der dann auch 22 Stimmen erhielt, bei drei Blankostimmen.
Inhaltliche Erklärungen während der Wahlvorgänge
Die nötige Zeit für die Wahlvorgänge und die Auszählung der Stimmen überbrückte Hubert Jenniges in der Direktübertragung mit inhaltlichen Erklärungen: "Ein Wort vielleicht, meine Damen und Herren, über die Befugnisse des Rates. Diese Befugnisse sind vornehmlich konsultativer Natur. Der Rat gibt von sich aus oder auf Verlangen des Präsidenten einer der gesetzgebenden Kammern oder eines oder mehrerer Minister eine Stellungnahme ab. So heißt es im Gesetz. Diese Stellungnahme darf sich auf die kulturellen Fragen beziehen, die sich im Zusammenhang mit der Entfaltung und Ausstrahlung der deutschen Kultur in den 25 Gemeinden befassen. In welcher Form diese Stellungnahmen abgefasst werden, muss der Rat noch selber festlegen.
Das wird in seiner Geschäftsordnung geschehen, die der Rat noch ausarbeiten muss. Ausgeklammert wurde aus dem Befugniskreis die Forschungspolitik. Die Begründung des Gesetzes vom 14. Juli 1973 heißt: weil das Gebiet zu klein sei, um viele wissenschaftliche Forschungsgebiete zu erfassen.
Es haben sich sehr viele ausländische Journalisten hier eingefunden, aber auch die Inlandspresse ist sehr stark hier im Saal des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft vertreten. Der Rat regelt für das deutsche Sprachgebiet die kulturellen Angelegenheiten sowie das Unterrichtswesen, allerdings mit Einschränkungen. Der Rat übernimmt die eingeschränkten Kompetenzen der beiden anderen Kulturräte in dieser Frage.
Dabei werden ausgeklammert: die Fragen des Schulpakts, die Strukturen des Schulwesens, die Gehälter und die Normen. Für den Unterricht und für die Anwendung der Sprache wird also der Rat zu einer Stellungnahme ersucht, die von großer Bedeutung für die Verteidigung und für die Förderung der deutschen Sprache und der deutschen Kultur sein wird.
Nationales Parlament behält "gesetzgebende Autorität"
Ausdrücklich wird jedoch auch in der Begründung des Gesetzestextes zur Einführung dieses Rates angegeben, dass das Parlament, das heißt der nationale Gesetzgeber, weiterhin in den Angelegenheiten als gesetzgebende Autorität auftritt, die bei den anderen Kulturgemeinschaften in das Hoheitsgebiet der Kulturräte fallen. Als Begründung wird angeführt, es sei unmöglich gewesen, dem Rat der deutschen Kulturgemeinschaft eine dekretähnliche, das heißt eine legislative Befugnis zu verleihen. Deshalb wird eine verpflichtende Konsultierung des Rates durch den nationalen Gesetzgeber als Ausgleich angesehen.
Darüber hinaus verfügt der Rat über Kompetenzen auf dem Wege reglementierender Verordnungen über die Finanzierung kultureller Aktivitäten. In diesem Bereich kann also der Rat als souveräne Körperschaft auftreten. Dies gilt beispielsweise bei der Festlegung der Bedingungen für die Vergabe von Subventionen, von Preisen und Stipendien an Einzelpersonen, Institutionen und Vereinigungen. In der Absicht der Autoren des Gesetzestextes war es auch, der deutschen Kulturgemeinschaft in den kulturpolitischen Angelegenheiten ein Mitspracherecht, jedoch kein direktes Mitbestimmungsrecht zu verleihen.
Wohl wird in der Begründung zu dem Gesetzestext die Möglichkeit angesprochen, die Befugniskreise gegebenenfalls zu erweitern.
Fortschreitende Regionalisierung öffnet Perspektiven
Weil das Gesetz zur Einführung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft nur mit einfacher Mehrheit im Parlament verabschiedet wurde, ist auch die Möglichkeit gegeben, dass weitere Abänderungen keine besondere Mehrheit erfordern. So eröffnet sich hier eine Perspektive, die vielleicht mit der fortschreitenden Regionalisierung größeres Relief erhalten könnte. Doch hier bewegen wir uns in einem Felde politischer Vermutungen.
Kehren wir nochmals zu der Kompetenzfrage des Rates zurück. Beim Rat wird ein Ausschuss für die offizielle deutsche Übersetzung der Gesetze und Erlasse eingerichtet. Er besteht aus drei vom Rat ernannten Mitgliedern. Die besondere Sachkunde in Rechts und Gesetzgebungsfragen sowie gründliche Kenntnisse der deutschen Sprache und der deutschen juristischen Terminologie besitzen."
Johann Weynand erster Präsident
Als Präsidenten des Kulturrates hatte die dominierende CSP Johann Weynand vorgeschlagen. Seine Wahl war dann auch keine große Überraschung: Herr Mockel: "21 Stimmen wurden abgegeben für Herrn Weynand und vier blanko." Herr Schyns: "Demzufolge ist rechtmäßig zum ersten Präsidenten des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft Herr Weynand als Präsident gewählt worden. (Applaus)
Im BHF kommentierte Hubert Jenniges: "Johann Weynand hat jetzt vorne Platz genommen und wird jetzt die Sitzung beenden."
Ansprache Johann Weynand: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, für das überaus große Vertrauen, das Sie mir soeben durch die Wahl zum ersten Präsidenten des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft ausgesprochen haben, möchte ich Ihnen nicht ohne Rührung meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Ich glaube sagen zu dürfen, dass hier in einer ersten wichtigen Entscheidung der Rat den Grundstein gelegt hat für eine echte Zusammenarbeit, so wie sie die Bevölkerung von uns allen erwartet.
"Außergewöhnliche Stunde"
Ich möchte Ihnen in dieser, für unser Land und für unsere Kulturgemeinschaft so außergewöhnlichen Stunde sagen, dass ich dieses ehrenvolle Amt, das Sie mir aufgetragen haben, als Dienst und Verantwortung auffasse: Dienst vor allem an den Menschen im freien, deutschsprachigen Belgien, die mit großen Erwartungen, aber auch mit kritischer Distanz auf unsere heute einsetzende Arbeit blicken; Verantwortung unserem ganzen Land gegenüber, das sich durch eine renovierte Verfassung [sc. eine Verfassungsrevision] neue Ausrichtungen und Ziele gegeben hat.
Der Rat, der heute hier in Eupen vor der gesamten Öffentlichkeit zum ersten Mal zusammentritt, ist ein wichtiges Organ der neuen Verfassung, das es jetzt mit Ernst, Aufgeschlossenheit und Selbstbewusstsein zu erfüllen gilt. Ich bin überzeugt, dass alle Mitglieder dieses Rates diesen guten Willen im Interesse unserer Gemeinschaft mitbringen.
Ich möchte hier betonen, dass ich meine Arbeit als Präsident nicht darin sehe, autoritäre und besserwissende Bevormundung auszuüben. Ich bin der Präsident aller und will mich anstrengen, dieses Amt nach bestem Wissen und Gewissen offen und umseitig zu führen. Die Erwartungen, die wir alle in diesen Rat setzen, werden auch davon abhängig sein, dass hier ein Stil und eine Zusammenarbeit wachsen, die zwar die fruchtbare Kontroverse nicht ausschließen, aber stets die Verpflichtung zur demokratischen Fairness zum obersten Gebot machen.
Überraschend kurze Sitzung
Ich möchte nicht schließen, ohne ein Wort des Dankes an unseren Staatssekretär, Herrn Willy Schyns, gerichtet zu haben. Wenn wir heute hier nahezu planmäßig eine feierliche Einsetzung vornehmen können, die für immer in die Geschichte des deutschsprachigen Belgiens eingehen wird, so verdanken wir das vor allem der unermüdlichen und hartnäckigen Vorarbeit unseres Staatssekretärs, der den Auftrag seiner Regierung entschlossen und pflichtbewusst durchgeführt hat. (Applaus)
Heute ist ein schöner und glücklicher Tag, der eine neue vielversprechende Phase in der Geschichte unserer Gegend einleitet. Wir alle haben die Pflicht, diese Geschichte mitzugestalten. Es lebe Belgien! Es lebe der König!"
Und damit war die Tagesordnung der ersten RdK-Sitzung erschöpft. Sie war deutlich kürzer als erwartet, wie BHF-Kommentator Hubert Jenniges überrascht feststellte. "Hier im großen Sitzungssaal werden jetzt die Lichter gelöscht. Eine sehr kurze Sitzung, sie war kürzer als allgemein angenommen worden war. Wir werden jetzt dieses Haus Nr. 8 am Kaperberg verlassen und werden uns gleich wieder aus Eupen melden, und zwar aus der Aula des Collège Patronné für die Direktübertragung der Feierstunde. Wir schalten hiermit zurück zum Funkhaus in Brüssel."
Stephan Pesch