Es herrscht Krieg in Europa, das schon seit einem Jahr. Zuletzt habe ich gelesen, dass wir das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreichen werden. Die Inflation war so hoch wie lange nicht mehr. Viele müssen sparen, können sich Essentielles nicht mehr leisten. Manche werden wütend, andere resignieren. Mir geht es gut, ich kann eigentlich nicht klagen.
Und trotzdem: Ich habe letztens versucht, über meine eigene Zukunft nachzudenken. Das Ganze war sehr ungewiss, vage. Wie sieht die Welt aus, in der ich in zehn Jahren leben werde? Ich weiß es nicht. Wie geht es da Menschen, die diese Welt gerade erst kennenlernen, die gerade erst versuchen, darin Fuß zu fassen? Das muss noch viel schwieriger sein, denke ich mir.
Junge Menschen durchleben Trauer, Einsamkeit und Überforderung
Nira, Cheyenne und Eva sprechen nach ihrer Zukunft gefragt direkt ihre berufliche Zukunft an. Das scheint für sie essentiell zu sein. Sie sind 16, 17 und 19 Jahre alt. Die letzten Jahre waren in dieser Hinsicht keine einfachen.
Achim Nahl, Psychologe und therapeutischer Leiter des Beratungs- und Therapiezentrums, sagt, Jugendliche durchleben häufig "Zweifel an der Studienwahl, Orientierungsverlust und eine Sinnkrise, aber auch Trauer, verlorene und teils einsame Jugendjahre".
Das BTZ ist der Dienst für die ambulante Versorgung im Bereich der psychischen Gesundheit. Kinder bis 14 Jahren und Jugendliche und Erwachsene ab 14 Jahren werden hier von verschiedenen Therapeuten begleitet. Und die beobachten Einsamkeit, Kinder, die bis zum Schulabbruch in Rückstand geraten sind, Angst, Überforderung. Die Anzahl Hilfesuchender steigt - in allen Altersgruppen. Und die Probleme werden komplexer. Seit dem Lockdown fragen mehr Leute beim BTZ nach Hilfe.
Mehr Hilfesuchende, komplexere Probleme
"Das Ausmaß reicht von vorübergehenden Belastungen, situationsbedingt […], hin zu psychischen Erkrankungen, die auch fachärztliche Hilfe brauchen. Manche Symptome mögen für sich allein schon beunruhigen. Wenn wir allein schon an Themen wie Suizidgedanken, Störungen des Essverhaltens, Ängste oder Depressionen denken." Die aktuelle Situation nennt Achim Nahl "ein dickes Paket". Es gibt den aktuellen Kontext mit seinen vielen Krisen. Und dann - nicht zu vergessen, die Spätfolgen der Pandemie. Damals ist viel ins Wanken geraten - und vielleicht auch verrückt.
Vertrauensverlust als eine der größten Herausforderungen
"Meine Kolleginnen nennen die Folgen der Krise zurecht: Die Welt hat das Urvertrauen verloren. Das Urvertrauen als die bisherige Gewissheit, dass es doch noch immer gut gegangen ist." Während der Pandemie und auch jetzt während der Nachbearbeitung werden Schulen als reiner Lernort angesehen. Als sie nach dem Lockdown wieder aufmachten, da ging es darum, Lernrückstände nachzuholen und eben nicht die sozialen oder psychosozialen Rückstände.
Eine These, der auch Achim Nahl zustimmt. "Ich glaube, dass das eine ganz große Herausforderung ist und da kann man natürlich nur von Schule zu Schule ganz individuell hinschauen. Und wir stellen eben fest, dass da auch Schule mittlerweile sehr viel auffangen muss, aber auch kann. Und dass da eine ganz große Chance ist."
Angst und Depression weit verbreitet
Fabio Lesuisse arbeitet bei Kaleido, er ist dort Koordinator für die psychosoziale Entwicklung. Kaleido versucht Kinder und Jugendliche in den Schulen zu begleiten. Nicht jeder Schüler hat unter der Pandemie gelitten, manche haben sogar profitiert. Trotzdem gibt es auch bei Kaleido nun mehr Anfragen und Begleitungen. Und das oft über einen längeren Zeitraum hinaus. Es gibt keine schnellen Lösungen mehr, sagt Fabio Lesuisse. "Da ist zum einen das Thema Angst und Depression ein ganz großes. Und generell können wir, glaube ich, behaupten, dass die Komplexität der Situationen, die wir begleiten, mehr zunimmt."
Kaleido ist ein Dienst der ersten Linie - und versucht Kinder und Jugendlichen in bestimmten Fällen weiterzuvermitteln. Das wird immer schwieriger - doch darauf kommen wir später zurück.
Verpasste erste Male lassen sich nicht nachholen
Fabio Lesuisse beobachtet bei den Schülerinnen und Schülern viele Bedürfnisse. Erst jetzt kämen die Folgen der Pandemie mit ihren Lockdowns zu tragen. Bedürfnisse, die unter strengen Regeln nicht erfüllt werden konnten und die sich jetzt gar nicht mal so einfach nachholen lassen - wenn denn überhaupt. "All diese ersten Male, die lassen sich schwer reproduzieren. Die sind übersprungen. Und die müssen jetzt irgendwie auf andere Art und Weise kompensiert und aufgeholt werden." Sich von den Regeln der Eltern emanzipieren und so eigene Werte aufstellen, das war oft nicht möglich.
Und jetzt gibt es wenig Raum und Zeit für diese verpassten ersten Male. Kinder, Jugendliche, aber auch Eltern und Schulen - die Gesellschaft als Ganzes stolpert von einer Krise in die nächste. "Ja, also die Schule im Grunde auch weit über die Wissensvermittlung hinaus als Entwicklungsfeld - auf sozialer aber auch auf individueller Ebene - spielt eine ganz große Rolle. Da stellen wir fest, dass da eben viel nachgeholt werden muss. Und dass Nachholen einen Druck auslöst."
Streetworker mussten im Lockdown andere Wege finden
Manchmal vor den Schulen und sonst auf den Straßen sind die Streetworker unterwegs. Sie suchen Jugendliche auf, versuchen mit ihnen ins Gespräch zu kommen und so eine Verbindung aufzubauen. Mal helfen die Streetworker selber, mal vermitteln sie weiter, so wie etwa Celia Marx. "Jobsuche, Wohnungssuche, Probleme mit Schule, psychische Probleme, einfach mal vermitteln zwischen einem Vermieter und einem Jugendlichen. Das sind so die gängigsten Anfragen. Aber wir sind da in keinster Weise begrenzt, das heißt, man kann mit jedem Thema zu uns kommen."
Und wenn Celia Marx "jedes Thema" sagt, dann meint sie auch "jedes Thema". Alles, was so an Problemen in der Gesellschaft auftaucht, könne man auch bei den Jugendlichen beobachten, die sie so trifft. Und dazu gehört auch psychischer Druck als Spätfolge der Pandemie. Doch genau zu dieser schwierigen Zeit - als die Probleme entstanden - durften die Streetworker nicht auf der Straße sein. "Wir mussten auch viel aktiver sein, den Jugendlichen zu schreiben 'Hey wie geht's dir? Alles gut?', weil durch die Kriminalisierung des öffentlichen Raums zu der Zeit fand man auch nicht mehr viele Jugendliche im öffentlichen Raum. Und deswegen mussten wir versuchen umzuplanen, umzustrukturieren. Eben weil das Leiden größer war in der Periode."
Zum einen waren die Streetworker in dieser Zeit selber in ihrer Arbeit eingeschränkt. Zum anderen fielen alternative Angebote erst mal weg, was eigentlich mehr Arbeit für die Streetworker bedeutete. Heute arbeitet auch Ruben Rotheudt als Praktikant bei Streetwork. Zu Zeiten der Pandemie war er noch Student. Das, was zu dem Zeitpunkt noch nicht digital war, wurde es spätestens dann. Filme schauen - digital. Unterrichten folgen - digital. Freunde treffen - digital. "Ich war nur noch zuhause. Mir fiel es schwer, einen Ausgleich zu finden. Da halt durch die Regeln nicht viel möglich war, sich anders zu beschäftigen. Teilweise fiel einem dann auch die Decke auf den Kopf."
Corona veränderte Verhältnis zu staatlicher Autorität
Den Jugendlichen sei das irgendwann zu viel geworden, berichten die beiden Streetworker. Irgendwann hätten die, manchmal in kleinen Wohnungen ohne Garten sitzend, nicht mehr gekonnt. Beispiele kennen sie auch. Ein Junge habe während des ersten Lockdowns einfach draußen sitzen wollen. Mit einem Bier in der Hand hatte er sich auf eine Parkbank gesetzt, alleine. Wenig später kam die Polizei und protokollierte ihn. "Dass das einfach in der Zeit nicht möglich war, hat einen gewissen Trott mit sich gebracht, der dann halt vor allem gegenüber Autoritätspersonen sich geäußert hat."
Wir sind wieder bei Nira, Cheyenne und Eva. Auch sie sind regelmäßig mit den Streetworkern unterwegs. Der Kontakt kam ganz unterschiedlich zustande. Mal sahen sie das Mobi vor der Schule stehen, mal ging es über einen Freund. "Ich bin mit Streetwork in Kontakt gekommen durch einen guten Freund von mir. Ich habe dann die Nummer von Celia bekommen und sie wortwörtlich heulend angerufen, weil es mir nicht gut ging. Ich hab mich direkt verstanden gefühlt, sie war direkt für mich da, obwohl sie mich noch nicht kannte."
"Wir sehen die Streetworker nicht als Freunde oder so, sondern schon als Teil unsere Familie. Weil sie halt wirklich immer für uns da sind."
Eingangs hatte ich die jungen Leute zu ihrer Zukunft gefragt. Jetzt will ich wissen, wie sie sich in der Gesellschaft fühlen, für die auch sie so viel geopfert haben. "Ich war immer eine Jugendliche, die sehr viel draußen war, die sehr viel feiern war. Die einfach so ihr Leben genossen hat, auch mit Freunden viel gemacht hat. Und das ging auf einmal nicht mehr. Und das war irgendwie komisch und nicht mehr so, wie es mal war. Und das hat mich halt sehr deprimiert. Und dann bin ich irgendwann rausgegangen."
"Normal" war plötzlich "strafbar"
"Draußen sein" oder "Freunde treffen" - ganz normale Bedürfnisse wurden strafbar. Und diese Bedürfnisse sind doch gerade bei Jugendlichen besonders groß. Ausprobieren, Regeln austesten und gemeinsam mit anderen sein. Während die einen sich auch während der Einschränkungen noch daran versucht hat, war es bei anderen das Gegenteil. "Aber das hat dazu geführt, dass ich mich noch mehr eingesperrt habe und selbst alleine nicht mehr rausgegangen bin, es einfach vermieden habe, überhaupt vor die Tür zu gehen. Und das hat alles noch ein Stück weit verschlimmert."
Wo können Jugendliche mit psychischen Problemen heute hin? Der Bedarf ist größer geworden, mehr Menschen melden sich auch aus Eigeninitiative. Was vielleicht auch an der Enttabuisierung des Themas liegt - das wäre dann nicht per se schlecht. Beim BTZ kann ein erster Termin innerhalb von 14 Tagen angeboten werden, versichert Achim Nahl. Und vieles könne auch schon bei einem ersten Gespräch gelöst werden. Da habe es auch geholfen, dass vor kurzem erst die Personalbestände aufgestockt wurden. Was aber wenn die Probleme darüber hinaus bestehen?
Lange Wartelisten bei Kinder- und Jugendpsychiatern
"Für Jugendliche, die fachärztliche Untersuchung und Behandlung brauchen, gibt es Engpässe - nicht erst seit der Pandemie, aber seither noch stärker. Das liegt daran, dass es in Ostbelgien nur wenige Termine bei Kinder- und Jugendpsychiatern gibt."
Und auch bei Kaleido bestätigt man diese Feststellung. Als Dienst der ersten Linie ist Kaleido für Bestandsaufnahmen zuständig. Bei der weiteren Vermittlung entstehen aber schnell Probleme. "Und dann ist der nächste Schritt meistens das Weiterleiten an andere Dienste, an Unterstützungsformen, an therapeutische Maßnahmen. Und da ist die Wartelistensituation einfach sehr angestiegen und stellt eine große Herausforderung dar."
Vielleicht sollte man das Angebot einfach neu denken, umdenken, meint Fabio Lesuisse. Die Ressourcen, die da sind, neu aufeinander abstimmen. Das Ganze greifbarer, niederschwelliger und somit nutzbarer machen. Es gebe nämlich viele gute Angebote. Am Ende sei aber die Zugänglichkeit entscheidend. "Dass wir das nutzen, diesen Aufschwung und nicht die Chance verpassen, dass der Zug wieder abfährt und es plätschert alles so vor sich hin wie vorher. Dass jetzt der Moment da ist, um genutzt zu werden."
Zuhören ganz oben auf der Wunschliste der Jugendlichen
Und was wollen die Jugendlichen, frage ich Nira, Cheyenne und Eva. Wünschen sie sich mehr Räume, vielleicht auch das eine oder andere zusätzliche Angebot? Während der Pandemie hatte ihnen keiner der Verantwortlichen zugehört, keiner kam, um zu fragen, wie es geht. "Es wird größtenteils gemutmaßt von den Politikern. Also so kommt es für mich rüber: wie es uns geht, und was man machen könnte. Aber größtenteils sehe ich da nur heiße Luft bis jetzt. Auch während der Pandemie."
Die Jugend mit ihren Bedürfnissen und Sorgen ernst nehmen, ihnen zuhören. In den Schulen zum Beispiel. Vertrauenspersonen schaffen und ab und zu auch mal offen über komplizierte Themen sprechen. Oder aber in der Familie. Auch das kann ein wichtiger Auffangort sein, hatte mir schon Achim Nahl erklärt, der den Jugendlichen ganz allgemein große Selbstheilungskräfte attestiert.
Ein letzter wichtiger Punkt: Akzeptanz. "Ihr habt ein Dach über dem Kopf. Ihr seid reich aufgewachsen, ihr seid verwöhnt. Aber trotzdem kann es einem schlecht gehen. Klar, ich hab ein Dach über den Kopf, ich hab Essen auf dem Tisch. Heißt aber nicht, dass es mir mental die ganze Zeit gut geht."
Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche psychisch stark mitgenommen. Vielleicht war nicht jeder betroffen, aber doch viele. Das bestätigt mir jeder, den ich zu dem Thema getroffen habe. Eigentlich gibt es Aufholbedarf - auf psychosozialer Ebene. Doch etwas aufholen, das impliziert direkt, dass man zu spät ist, hintendran ist - was wiederum Druck erzeugt. Aktuell fehlen Zeit und Räume, um den Druck rauszunehmen - und auch um Freiheiten auszuleben. Der Krieg, der Klimawandel, die Inflation - das belastet auch die, die mit für Jugendliche da sein müssten.
Am Ende meines Gespräches frage ich Nira, Cheyenne und Eva nach ihren Wünschen für die Zukunft. Sie müssen überlegen. Von sich aus nennen sie mir ihre beruflichen Ziele. Nira will Kunstlehrerin und -pädagogin werden. "Irgendwas Soziales", meint Eva. Am liebsten mit Jugendlichen arbeiten, auf sie zugehen. Cheyenne möchte Alltagsbegleiterin in einem Pflegeheim werden. Als wir uns voneinander verabschiedet haben, fällt mir auf: Das sind alles Berufe, in denen man für andere da ist.
Andreas Lejeune