In einem offenen Brief an die Bürger von Brüssel ist das zu lesen, was am Donnerstag für viel Aufregung im politischen Belgien gesorgt hat: Yvan Verougstraete, Parteichef von Les Engagés, will zum zweiten Mal federführend versuchen, eine Regierungsmehrheit für Brüssel zu suchen. Aber diesmal ohne die MR.
Es ist dieses "ohne die MR", was für Aufsehen sorgt. Bislang waren MR und Les Engagés nach den Wahlen von Juni 2024 nämlich fast immer im Tandem in Erscheinung getreten. Beide konnten sich als Wahlsieger fühlen, in der Wallonie bilden sie zusammen die Regierung, in der Föderalregierung sind sie die beiden frankophonen Partner in der Fünfer-Koalition.
Auch in Brüssel sollte dieses Tandem erfolgreich mit einer linksorientierten Politik brechen. Verougstraete scheint sich davon verabschieden zu wollen. "Man kann sich nicht immer für das Ideale entscheiden. Manchmal muss man sich für das entscheiden, was am Realistischsten ist", sagte er der RTBF. "Das ist nicht einfach, das mache ich nicht mit leichtem Herzen, aber es ist eine Entscheidung der Vernunft und der Verantwortung.“
Rein rechnerisch bleibt auch das Projekt von Verougstraete ein brüchiges Gebilde. Zusammen mit PS, Ecolo und Défi wollen Les Engagés auf frankophoner Seite zusammenarbeiten, auf flämischer Seite zunächst mit Groen, Vooruit und der CD&V. Weder auf frankophoner noch auf flämischer Seite würde das für eine Mehrheit reichen. Die neue Koalition käme auf 43 der 89 Sitze im Parlament.
Aber Teil des Projekts von Verougstraete ist es auch, zunächst einen Plan zu erarbeiten mit den genannten Partnern. Mit dem Plan, dem "Projekt für Brüssel" will er die anderen Parteien zu überzeugen.
"Ich glaube", so Verougstraete, "dass nach 18 Monaten die Logik nicht mehr eine Parteilogik sein kann, sondern eine Logik der Verantwortung gegenüber den Bürgern, die uns gewählt haben. Mein Traum ist es sogar, Einstimmigkeit im Parlament zu erreichen. Dass alle Abgeordneten sagen: 'Ja, das ist ein Projekt für Brüssel.' Und wir hören auf mit unseren Spielchen, die uns seit 18 Monaten in eine Sackgasse getrieben haben."
Bei Groen, Ecolo und PS war man schnell dabei, diese Initiative zu begrüßen. Ahmed Laaouej als Chef der PS in Brüssel sagte auch mit Blick auf die bisherigen Bemühungen von MR-Chef Georges-Louis Bouchez, die festgefahrene Situation in Brüssel zu entwirren: "Wir haben feststellen können, dass die Methode von Bouchez zu nichts geführt hat. Es ist deshalb höchste Zeit, den Stab weiterzureichen und dass jemand anderes den Stier bei den Hörnern packt. Deshalb begrüßen wir die Initiative von Yvan Verougstraete. Wir werden seiner Einladung zu Gesprächen folgen."
Bouchez: "Fühle mich nicht mehr Les Engagés verbunden"
Bouchez polterte schnell gegen die Entscheidung von Verougstraete. Diese respektiere nicht das Ergebnis der Wahlen, wenn die stärkste frankophone Partei von der Regierung ausgeschlossen werden solle, sagt Bouchez in einem Videobotschaft. Die MR habe immerhin 26 Prozent der frankophonen Wählerstimmen erhalten.
Bouchez spricht sinngemäß von einem Verrat, von einem Partner, der fremdgehe, und kündigt Folgen für das Zusammenwirken von MR und Les Engagés in anderen Regierungen an. "Ich kann es nicht zulassen, dass man meine Partei auf diese Art beleidigt, ja sogar erniedrigt wird", lässt sich Bouchez von der Zeitung De Standaard zitieren.
Politische Beobachter gehen allerdings davon aus, dass es in der Praxis nicht unbedingt zu einem größeren Zerwürfnis zwischen MR und Les Engagés kommen wird.
Ob also den Worten von Bouchez Taten folgen, bleibt abzuwarten. Eins aber kann bereits jetzt festgestellt werden: Die Beziehung zwischen Les Engagés und MR, die seit Sommer vergangenen Jahres läuft, erlebt gerade ihre erste richtig große Krise.
Kay Wagner