Es sind bewegte Zeiten. "Disruptiv" wäre wohl das treffendere Wort, in dem Sinne, dass man im Moment nur feststellen kann, dass es wirklich nichts gibt, was es nicht gibt.
Nur ein Beispiel: In der Generalversammlung der Vereinten Nationen haben die USA Montag gegen eine Resolution gestimmt, die Russland als Aggressor im Krieg gegen die Ukraine benennt. Amerika gehörte damit zu einer Gruppe von gerade mal knapp 20 Ländern, die sich gegen den Text ausgesprochen haben, an der Seite von unter anderem Russland, Belarus, dem Sudan und Nordkorea.
Festzuhalten ist dabei eben, dass die USA von Donald Trump inzwischen offensichtlich wirklich unverschleiert und demonstrativ den Standpunkt Russlands teilen. Das fragliche Votum fand quasi just in dem Moment statt, in dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit Donald Trump vor den Fernsehkameras den großen Schulterschluss üben wollte.
Beide äußerten sich zwar mehr oder weniger gleichlautend und bekundeten dabei ihre Absicht, den Krieg in der Ukraine beenden zu wollen. Aber, wie Trump das in der Praxis sehen dürfte, das zeigte sich in etwa zur selben Zeit im UN-Gebäude in New-York.
Russland hyperaktiv
Alles weist inzwischen in dieselbe Richtung: Die EU kann sich nicht mehr auf den großen, transatlantischen Bruder verlassen. Und der amerikanische Kurswechsel hat die Europäer definitiv wachgerüttelt. Denn sie wissen, dass diese Neuausrichtung eben nicht nur für die Ukraine-Politik gilt, sondern auch in Bezug auf die Bedrohung durch Russland. Trump hat klar zu verstehen gegeben, dass der Alte Kontinent seine Probleme künftig alleine lösen muss.
"Auch wir werden uns auf Krieg vorbereiten müssen", sagte der neue Verteidigungsminister Theo Francken in der RTBF. "Ein hybrider Krieg ist doch schon längst im Gange, mit Sabotageakten, Cyberangriffen und Desinformationskampagnen zwecks Wahlbeeinflussung. Die Russen sind derzeit regelrecht hyperaktiv", sagt der N-VA-Politiker.
Druck aus den USA und von der EU
Mit einem Mal wird Europa mit seiner Schwäche konfrontiert, wobei Fachleute vor genau diesem bösen Erwachen" schon seit Jahren warnen. Belgien gehörte bekanntermaßen zu den Staaten, die die sogenannte Friedensdividende in der Zeit nach dem Mauerfall besonders ausgereizt haben. Das Zwei-Prozent-Ziel, auf das sich die NATO-Staaten 2014 geeinigt hatten, wurde schamlos ignoriert. Und das rächt sich jetzt.
Denn: Plötzlich machen nicht nur die USA Druck, sondern auch die EU-Partner. Jedenfalls die, die ihre Hausaufgaben gemacht haben. Die neue Föderalregierung hat sich zwar inzwischen ebenfalls zu dem Zwei-Prozent-Ziel bekannt, wollte es aber erst für 2029 anpeilen. "Wir haben aber keine fünf Jahre Zeit mehr", giftete prompt die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Und, wenn sich die Föderalregierung beim NATO-Gipfel Ende Juni Ärger ersparen will, dann nimmt sie besser schnell Nachbesserungen vor. Verteidigungsminister Theo Francken will den Koalitionspartnern genau das vorschlagen. "Wir haben einen enormen Rückstand aufzuholen", betont der N-VA-Politiker:
Zwölf statt acht Milliarden Euro
"Enorm" ist der Rückstand in der Tat. Wenn Belgien wirklich den Gegenwert von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in seine Verteidigung stecken muss, dann wären das vier Milliarden Euro mehr als jetzt, konkret nicht mehr acht, sondern zwölf Milliarden.
Und dieses Problem kommt für die Föderalregierung ja eigentlich nur noch "obendrauf". Denn, auch ohne die neue Herausforderung ist schon klar, dass der Haushaltsfahrplan für das laufende Jahr nicht mehr realistisch ist. Der Grund: Die Regierungsbildung hat zu lange gedauert, und die geplanten Maßnahmen können deshalb nicht schnell genug in Kraft treten.
2025 ist -aus haushaltspolitischer Sicht- ein halbwegs verlorenes Jahr. Hier waren ohnehin schon Nachbesserungen nötig. Und das könnte für die Arizona-Regierung zu einer ersten und gleich wirklich ernsten Feuerprobe werden.
Einladung nach Kiew
An der Solidarität mit der Ukraine ändert all das aber freilich nichts. Im Gegenteil: So zynisch es klingt, aber in Europa weiß man, dass die Ukrainer mit ihrem heroischen Widerstand gegen den russischen Aggressor dem Kontinent zusätzlich Zeit kaufen.
Premierminister Bart De Wever hat am Dienstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert und ihm nochmals die Unterstützung Belgiens versichert. Selenskyj hat De Wever bei der Gelegenheit nach Kiew eingeladen.
Beide Männer werden sich voraussichtlich ohnehin schon in der nächsten Woche sehen, denn der ukrainische Präsident will am geplanten EU-Sondergipfel teilnehmen. Dabei sollen eben die neuen geopolitischen Entwicklungen im Mittelpunkt stehen werden.
Roger Pint