War der Staat schuld am Tod von Julie Van Espen? Wenn man es auf den kleinsten Nenner bringt, dann geht es in dem Brüsseler Verfahren, das am Donnerstag begonnen hat, eben um diese Frage.
Begonnen hat alles an jenem unseligen 4. Mai 2019. Gegen 18:00 Uhr schwingt sich Julie Van Espen auf ihr Fahrrad, um von ihrem Wohnort Schilde nach Antwerpen zu fahren. Die etwa 15 Kilometer lange Strecke führt teilweise entlang des Albertkanals. Und dort kommt es zu dem Drama. Wie man später rekonstruieren konnte, wird die 23-Jährige kurz vor Antwerpen unter einer Brücke vom Rad gerissen, vergewaltigt und ermordet. Der mutmaßliche Täter konnte schnell mithilfe von Bildern einer Überwachungskamera identifiziert werden. Es handelte sich um den damals 39-jährigen Steve Bakelmans. Der wurde dafür zwei Jahre später zu lebenslanger Haft verurteilt.
Julie Van Espen war vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Wie sich schnell herausstellte, war das aber allenfalls die halbe Wahrheit. Dieser Steve Bakelmans hätte damals nämlich eigentlich gar nicht mehr auf freiem Fuß sein dürfen. Zwei Jahre zuvor war er schon zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Und das auch schon wegen Vergewaltigung. Das Urteil war aber noch nicht rechtskräftig, weil Bakelmans Berufung eingelegt hatte. Dieses Berufungsverfahren hatte aber auf sich warten lassen. "Wegen Personalmangels", hieß es damals.
Mörder war Wiederholungstäter
Hinzu kommt: Im Fall Steve Bakelmans hätte man das Berufungsverfahren gar nicht abwarten müssen, ist die Familie überzeugt. Der Mann war nämlich ein Wiederholungstäter. 2004 war er auch schonmal wegen Vergewaltigung verurteilt worden. Damals war er zudem nach einem Hafturlaub nicht ins Gefängnis zurückgekehrt. Es bestand also offensichtlich Fluchtgefahr. Und deswegen hätte Steve Bakelmans auch schon nach der Urteilsverkündung in erster Instanz in Haft genommen werden müssen, sagen die Eltern von Julie Van Espen.
Und vor diesem Hintergrund wollen sie es nicht dabei belassen. Sie haben den belgischen Staat wegen all dieser Versäumnisse verklagt. Ihre Frage ist die wohl unerträglichste, die man sich stellen kann: "Wäre Julie noch am Leben, wenn die Justiz so funktioniert hätte, wie sie hätte funktionieren müssen?"
Das sei aber kein Frontalangriff, unterstrich Stijn Verbist, der Anwalt der Familie Van Espen, in der VRT. Man behaupte ja nicht, dass die Justiz gar nicht funktioniert. Vieles, was da passiere, sei bestimmt gut und wichtig. Nur manchmal sei das eben nicht so, manchmal laufe was schief. Und in einem solchen Fall mögen auch Fragen und Kritik einer geschädigten Familie erlaubt sein, die eigentlich nur verlangt, dass diese Fehler als solche anerkannt werden.
"Hier wurden Fehler gemacht"
"Wir haben uns wirklich die Frage gestellt, ob wir uns ein neues Verfahren tatsächlich antun wollen", sagte Erik Van Espen, der Vater der ermordeten Julie, in der VRT. Er und seine Frau hätten sich aber am Ende dafür entschieden. "Wir wollen wirklich, dass der Beweis erbracht wird, dass hier Fehler gemacht wurden."
Klar: Das bringt Julie nicht mehr zurück. "Aber hier geht es ums Prinzip", betont Erik Van Espen. Und hier gehe es auch nicht ausschließlich um seine Tochter. Man wolle das Ganze breiter fassen, man wolle hier eine Art Präzedenz-Urteil erwirken, mit Blick etwa auf vergleichbare Fälle, die da noch kommen mögen. "Fehler müssen künftig klar benannt und dann auch nach Verantwortlichkeiten gesucht werden."
Und vergleichbare Fälle gibt es. Natürlich. Im Moment läuft sogar ein vergleichbares Verfahren. Die Angehörigen der Opfer des Amoklaufs von Lüttich vom 13. Dezember 2011 mit sechs Toten haben ein ähnliches Verfahren angestrengt: Auch sie wollen, dass dem Staat ein Fehler nachgewiesen wird, weil der Täter, Nordine Amrani, vorzeitig aus der Haft entlassen worden und danach nicht mehr begleitet worden war.
Zurück zum Fall Julie Van Espen: Vater Erik gibt sich bei aller Entschlossenheit doch betont maßvoll. "Nochmal: Hier geht es ums Prinzip, und nur darum. Wenn wir gewinnen und vielleicht sogar einen Schadensersatz zugesprochen bekommen, dann werden wir das Geld spenden für den guten Zweck."
Roger Pint