Diesem Missstand liegt eine Arbeitsüberlastung zugrunde: Während in der Regel 100 bis 120 Dossiers als das Maximum für einen Mitarbeiter gelten, müssen Mitarbeiter beim ÖSHZ in Anderlecht bis zu 200 Dossiers bearbeiten. Aus dieser Überlastung ergeben sich lange Wartezeiten für die Antragsteller und mit der Zeit resultiert daraus eine weniger genaue Bearbeitung von Dossiers durch die Mitarbeiter.
Die VRT machte einen Versuch und schickte zwei junge Menschen undercover zum ÖSHZ in Anderlecht. Dort beantragten sie Sozialhilfe und nach monatelanger Wartezeit bekamen sie das Geld, obwohl sie nicht alle Voraussetzungen dafür erfüllten. Zum Beispiel wohnten die beiden gar nicht in Anderlecht. Entsprechende Kontrollen vor Ort, also an der im Dossier angegebenen Wohnadresse, wurden nie durchgeführt.
Um den laxen Umgang mit solchen Wohnsitzkontrollen zu belegen, unternahmen die VRT-Journalisten einen weiteren Versuch. Sie gaben eine Anzeige für Wohnraum in Anderlecht auf, der nur als Postadresse dienen sollte.
Die Redakteure von Pano erhielten massenhaft Antworten von Menschen, die die angebotenen Wohnungen nur aus diesem Grund mieten wollten. "Ich mache das, um Sozialhilfe zu bekommen. Ich wohne in Flandern, und dort Sozialhilfe zu beantragen ist zu kompliziert" gab einer der anonym aufgenommenen Anrufer offen zu und ergänzte, dass Gemeinden wie Anderlecht, Molenbeek und Schaerbeek bekannt dafür seien, die Menschen in Ruhe zu lassen. Dort gebe es so viele Menschen, dass die Mitarbeiter des ÖSHZ alles nicht so genau nehmen würden.
Nicht so genau genommen hat wohl auch der ehemalige Leiter des ÖSHZ in Anderlecht, Mustapha Akouz, seine Position als neutraler Chef. Der PS-Politiker hatte sich öfter persönlich für Antragsteller eingesetzt, um die Bearbeitung der Anträge - an den eigentlichen Prozeduren vorbei - zu beschleunigen. Als Gegenleistung - der Vorwurf steht im Raum - konnte sich Akouz der Wählerstimme des Leistungsempfängers sicher sein.
"Ich kann verstehen", sagt dazu Akouz in der VRT-Sendung, "dass man sich darüber in Flandern aufregt. Aber ich bin Sozialist. Und ich bin stolz darauf. Stolz darauf, meinem Nächsten zu helfen. Das kann man mir vorwerfen, aber so ist es. Dafür habe ich ein Mandat. Und wenn man mir vorwirft, Klientelismus zu betreiben, dann reicht es mir, den Menschen geholfen zu haben", so Akouz, der seit den Wahlen vom Juni im Brüsseler Regionalparlament sitzt.
Die in Anderlecht geborene PS-Föderalministerin Karine Lalieux, die für das Thema soziale Eingliederung in der geschäftsführenden Föderalregierung zuständig ist, forderte in einer Reaktion auf die VRT-Sendung, dass unabhängige Inspektoren den Vorwürfen nachgehen sollten.
Der N-VA in Brüssel reicht das nicht. Der Regionalabgeordnete Gilles Verstraeten lässt in der VRT anklingen, dass es schon in der Vergangenheit zahlreiche Untersuchungen zu den Praktiken des ÖSHZ in Anderlecht gegeben habe, die allesamt ohne Folgen geblieben seien. Das läge vor allem daran, dass auch die Kontrollinstanzen letztlich unter der Leitung einer PS-Politikerin aus Brüssel stünden, nämlich Karine Lalieux. Das ganze System der Kontrollketten müsse anders geregelt werden, fordert Verstraeten.
Am Mittwochnachmittag wurde bekannt, dass der Ausschuss für Soziales der föderalen Abgeordnetenkammer sich in der nächsten Woche mit der Affäre befassen wird.
Kay Wagner