Sinn und Zweck eines "Betreuungszentrums nach sexueller Gewalt" (kurz "BSG") ist es, Opfern von sexueller Gewalt an einem Ort und möglichst unbürokratisch zu helfen, erklärt Liesbet Stevens im Interview mit Radio Eén. Sie ist die Vize-Direktorin des Instituts für die Gleichstellung von Frauen und Männern, die die Arbeit der Betreuungszentren koordiniert.
Das Angebot richte sich an Opfer akuter sexueller Gewalt, präzisiert Stevens, also Opfer, bei denen die Taten höchstens sieben Tage zurückliegen. Sie sollen in den Zentren alles bekommen, um sich so gut es eben geht von dem zu erholen, was ihnen angetan worden ist. Das bedeutet, dass sie dort rund um die Uhr und kostenlos Hilfe finden können. Um das leisten zu können, arbeiten in den BSGs nicht nur medizinische Fachkräfte, sondern auch psychologische. Hinzu kommen speziell ausgebildete Polizisten und Justizvertreter.
Das Pilotprojekt sei sehr erfolgreich verlaufen, unterstreicht Stevens: Die Opfer seien sehr zufrieden mit der Behandlung und Betreuung, gleiches gelte für die Mediziner und Psychologen. Auch Polizei und Justiz betonten, dass die Zentren hilfreich seien, um Sexualstraftäter effektiver zu verfolgen und zu bestrafen.
Dass das Angebot angenommen wird, zeigen auch die Zahlen: Mit Ausnahme des Corona-Jahrs 2020 ist die Zahl der in BSGs betreuten Opfer kontinuierlich gestiegen. 2023 sei erstmals die Zahl von 4.000 betreuten Opfern überschritten worden. Das ist eine Steigerung von 28 Prozent im Vergleich zum Jahr davor, also über ein Viertel mehr.
Durchschnittsalter von 24 Jahren
Das Durchschnittsalter der Personen, die ein Zentrum aufsuchten, liege bei 24 Jahren, führt Stevens aus. Aber leider könnten vor allem Frauen jeder Altersgruppe zu Opfern sexueller Gewalt werden. Das jüngste behandelte Opfer sei gerade einmal zwei Monate alt gewesen, das älteste 90 Jahre alt. Es sei auch auffällig, dass viele minderjährige Opfer die Hilfe der BSGs in Anspruch nähmen.
Ein ganz entscheidender Vorteil der BSGs ist dabei, dass Beweise für sexuellen Missbrauch gesichert werden können, ohne dass das Opfer vorher formell entscheiden muss, ob es Anzeige erstatten will. Denn das war vor dem Pilotprojekt nicht möglich. Jetzt können die Opfer selbst Wochen später noch die entsprechende Entscheidung treffen, wie Marie-Colline Leroy, föderale Staatssekretärin für Chancengleichheit, Gendergerechtigkeit und Diversität, betont. Das sei sehr wichtig, so Leroy in der RTBF. Ohne Betreuungszentren nach sexueller Gewalt werde nur in zehn Prozent der Vergewaltigungen Anzeige erstattet. Mit den Zentren steige der Anteil auf 60 Prozent.
Zentren strukturell verankern
Aber trotz der Erfolge und des offensichtlichen Bedarfs sind die BSGs aktuell nach wie vor ein Pilotprojekt. Das bedeutet, dass die Politik quasi jederzeit entscheiden könnte, das Projekt zu beenden. In der Kammer wird gerade ein Gesetzentwurf debattiert, um die Betreuungszentren gesetzlich zu verankern. Mit dem Gesetz würden die Zentren strukturell verankert, erklärt deswegen Stevens. Damit gebe es dann auch keine Diskussion mehr darüber, ob die BSGs ihre Arbeit fortsetzen könnten.
Seit 2017 sei hart für die Rechte von Frauen und gegen geschlechtsspezifische Gewalt gekämpft und viel erreicht worden, so auch Staatssekretärin Leroy. Mit dem Gesetz wolle man absolut sicherstellen, dass das nicht einfach irgendwer irgendwann wieder aufweichen könne.
Ziel sei aber nicht nur, die Existenz der Zentren zu sichern, sondern auch beispielsweise das Führen von Diskussionen über ihre Finanzierung und Ähnliches zu erleichtern, ergänzt Stevens. Außerdem müssten auch organisatorische Details über zum Beispiel Abläufe und Prozeduren einfach gesetzlich geregelt und festgelegt werden.
Boris Schmidt