Dass Theo Francken gerne und viel poltert, ist bekannt. Außerdem ist sowieso quasi schon Wahlkampf, die Oppositionspartei N-VA hat also noch mehr Interesse als sonst daran, die Vivaldi-Regierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit in ein schlechtes Licht zu rücken. Aber selbst wenn man diese Faktoren berücksichtigt, sind die Vorwürfe Franckens sehr scharf. Hinzu kommt, dass die Lage ohnehin schon sehr angespannt ist – auch in Belgien.
Die Zeitung De Standaard berichtet am Montag, dass das Zentrum für Chancengleichheit Unia 50 Meldungen wegen antisemitischer Vorfälle erhalten hat – eine dramatische Zunahme zu den vier bis fünf pro Monat vor dem neuen Gazakrieg.
Ein Bild, das sich auch beim Anti-Terrorstab OCAM zeigt, wie Justizminister Paul Van Tigchelt auch im Interview mit Radio Eén bestätigt: Der Anti-Terrorstab habe seit dem 7. Oktober, also seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, 70 Bedrohungsmeldungen registriert.
Über die Hälfte der Fälle, nämlich 40, stünden in Verbindung mit dem Nahostkonflikt. Und die übergroße Mehrheit davon, 30 Meldungen, stammten aus Antwerpen und Brüssel. Das zeige, wie groß die Angst in der jüdischen Gemeinschaft und ernst die Gefahr antisemitischer Vorfälle sei.
Verbale und körperliche Gewalt
Antisemitismus könne dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen, so Van Tigchelt weiter, etwa verbale Gewalt, Stalking, das Leugnen, Verharmlosen oder Relativieren des Holocaust oder auch Sachbeschädigungen wie die Grabschändungen in Marcinelle.
Die Behörden hätten aber auch bereits Aufrufe zu körperlicher Gewalt gegen Juden erfasst. Es habe sogar bereits "einige weniger ernste" Zwischenfälle gegeben, bei denen die Polizei habe eingreifen müssen.
Premierminister De Croo hat den Vorwürfen Franckens, die Täter unbehelligt zu lassen, aber umgehend und entschieden widersprochen. De Croos Parteikollege Van Tigchelt weist die Behauptungen ebenfalls ausdrücklich zurück: Die föderale Ebene versuche, die jüdische Gemeinschaft des Landes in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden so gut wie möglich zu beschützen.
Die Bewachung besonders in Antwerpen und Brüssel sei verstärkt worden, auch durch den Einsatz zusätzlicher Beamter. Die Staatsanwaltschaft habe sich verpflichtet, bei antisemitischen und rassistischen Vorfällen Untersuchungen einzuleiten und gerichtlich dagegen vorzugehen.
Belgien verfüge auch über ein Netz entsprechend befugter Magistrate. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Opfer von zum Beispiel antisemitischen Vorfällen auch tatsächlich und umgehend Anzeige erstatten, denn nur dann kann die Justiz auch aktiv werden.
Das habe er der jüdischen Gemeinschaft gegenüber bei einem Treffen auch betont, so der Justizminister, denn er habe ein gewisses Zögern gespürt, diesen Schritt auch tatsächlich zu machen. Er sei aber notwendig, je schneller, desto größer die Chancen, dass Polizei und Justiz die Täter auch belangen könnten.
Verhaftung
In Acht nehmen müssen sich im Übrigen nicht nur Gewalttäter, auch die Anstiftung zur Gewalt zum Beispiel über soziale Medien kann als antisemitische Straftat geahndet werden.
Am 13. Oktober sei eine Person verhaftet worden, die über den Instant-Messaging-Dienst Telegram zur Gewalt gegen Juden aufgerufen habe. Theo Francken hatte ja auch behauptet, dass bisher noch niemand wegen antisemitischer Taten verhaftet worden sei.
Freie Meinungsäußerung sei ein hohes und wichtiges Gut, unterstreicht Justizminister Van Tigchelt. Auch klar für eine Seite Stellung zu beziehen sei natürlich gestattet. Aber zur Gewalt aufrufen gehe zu weit, da müssten die Behörden dann eingreifen, das sei die rote Linie, die nicht überschritten werden dürfe.
Boris Schmidt