Ein jüdischer Junge, der in Antwerpen vom Fahrrad geschubst wird. Ein jüdisches Ehepaar, das auf dem Bahnhof von Ypern in Richtung der Gleise gestoßen wird. Ein 14-jähriger jüdischer Schüler aus Wallonisch-Brabant, der im Internet mit dem Tod bedroht wird - seit dem 7. Oktober hat die Zahl der antisemitischen Übergriffe auch in Belgien stark zugenommen. Allein in Flandern hat die jüdische Organisation Shmira 231 solcher Vorfälle gezählt, die meisten davon in Antwerpen. Nach Angaben der Zeitungen De Morgen und Het Laatste Nieuws ist das - mehr oder weniger - fünfmal so viel wie in der Zeit vor Ausbruch des Krieges.
Die Zahlen von Unia, dem Institut für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung, scheinen diesen traurigen Trend zu bestätigen. "Genaue Statistiken liegen zwar noch nicht vor", sagte Unia-Direktor Patrick Charlier in der RTBF. Auf den ersten Blick sei es aber so: "Im vergangenen Jahr gingen bei uns im Durchschnitt pro Monat vier oder fünf Klagen über antisemitische Übergriffe ein. Nach dem 7. Oktober sind es manchmal mehr als 20. Dazu zählen verbale, aber leider auch physische Übergriffe, wie der Fall des Ehepaars in Ypern. Daneben werden aber auch Fassaden von jüdischen Einrichtungen oder Geschäften mit antisemitischen Graffiti beschmiert."
Die meisten dieser Zwischenfälle ereignen sich in Antwerpen. Das liegt aber in der Natur der Sache, möchte man sagen, aus dem einfachen Grund, dass die jüdische Gemeinschaft in der Scheldestadt mit Abstand die größte des Landes ist. Laut Schätzungen umfasst sie etwa 20.000 Menschen.
Große Besorgnis
Viele von ihnen fühlen sich gerade nicht immer wohl in ihrer Haut, beklagte der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever in der VRT. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sei die Besorgnis groß - Besorgnis über den Nahost-Krieg, aber vor allem dann auch über die möglichen Folgen, die der Konflikt auch in Europa haben kann. "Zum Beispiel die Bedrohung durch islamistischen Terror. Juden sind da ganz besonders im Fadenkreuz. In einer Stadt, in der es eine große jüdische Gemeinschaft gibt, müssen die Behörden das natürlich vor Augen haben und nochmal besonders Wert auf deren Schutz legen. Was wir auch tun", betont De Wever.
Bislang sei ja noch mehr oder weniger alles gut gegangen, fügt De Wever hinzu. Es gab zwar einige Zwischenfälle, aber es war eben nicht mehr als das: eben Zwischenfälle, zum Beispiel verbale Übergriffe oder auch Vandalismus. Er wolle das jetzt nicht kleinreden, aber das seien nunmal Dinge, die nicht anders zu erwarten seien. Man könne nur hoffen, dass die Kriegslogik irgendwann durchbrochen werde und dass in unseren Städten wieder Ruhe einkehre.
Das "Prinzip Hoffnung" reicht aber irgendwann auch nicht mehr. Das gilt zum Beispiel dann, wenn man weiß, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe besonders bedroht ist, wie eben im vorliegenden Fall die jüdische Gemeinschaft. "Natürlich tun wir von unserer Seite aus alles, was wir können, um diese Menschen zu schützen." Er habe aber schon mehrmals dazu aufgerufen, auch Soldaten einzusetzen zum Schutz jüdischer Bürger oder Einrichtungen. In Frankreich sei das selbstverständlich, die normalste Sache der Welt. Auch anderenorts würden Soldaten für statische Bewachungsmissionen eingesetzt. Nur in Belgien ginge das anscheinend nicht.
Soldaten im Öffentlichen Raum einzusetzen wäre ja nicht das erste Mal. Jeder erinnert sich noch an die Operation "Vigilant Guardian": Auf dem Höhepunkt der Terrorwelle, in der Zeit zwischen 2015 und 2021, waren zeitweise bis zu 1.800 Soldaten auf dem Staatsgebiet in Belgien im Einsatz, um sensible Einrichtungen zu schützen. "Also möglich ist das", sagt De Wever. Dass das dennoch nicht passiere, finde er unbegreiflich. Die föderale Polizei verfüge nicht über ausreichend Reserven. "Wenn das so ist, dann ist das so. Aber man könnte ja auf die Streitkräfte zurückgreifen." Dass die Föderalregierung das nicht tue, das kapiere er ganz einfach nicht.
Roger Pint