Es ist längst nicht das erste Mal gewesen, dass persönliche Daten der Angeklagten im Sanda-Dia-Prozess im Internet aufgetaucht sind, aber das, was am Mittwoch passiert ist, hatte doch eine neue Qualität. Denn dieses Mal war es ein in Flandern sehr bekannter Youtube-Videoblogger namens "Acid" mit rund einer halben Million Abonnenten, der sich die Reuzegom-Studentenvereinigung vorknöpfen wollte.
Er werde die Reuzegom-Täter in seinem Spezialvideo "exposen", also entarnen, so die vollmundige Ankündigung des gewohnt aufgedreht auftretenden "Acid". Er wolle die Reuzegommer "canceln", abschaffen. Und nicht nur sie, sondern auch ihre angeblich einflussreichen Eltern, die dafür gesorgt hätten, dass sie so mild davongekommen seien. Er werde das tun, was die Medien sich nicht trauten.
Von den vier Reuzegom-Studenten, die "Acid" dann virtuell an den Pranger stellte, waren zwei aber überhaupt nicht dabei bei der tödlichen Studententaufe und mussten sich folglich auch nicht vor Gericht verantworten. Das ganze Spektakel garnierte "Acid" zu allem Überfluss aber auch noch mit Fotos diverser Gouverneure und Politiker, die nachweislich ebenfalls nichts mit der Sache zu tun hatten.
Aber egal wie, die Aktion hat dem Videoblogger - neben einer Sperre seines Youtube-Accounts - offensichtlich die so heiß ersehnte Aufmerksamkeit gebracht. Auch aus hohen politischen Kreisen in Form des CD&V-Vorsitzenden Sammy Mahdi, der "Acid" seinerseits mit einem Tiktok-Filmchen unterstützte und dabei ebenfalls kräftig vom Leder zog.
Warum werde jetzt so eine Hexenjagd auf "Acid" veranstaltet, fragte Mahdi? Er habe doch im Prinzip, wenn überhaupt, nur das getan, was Journalisten jeden Tag täten. Möglicherweise sogar mit weniger Details und zumindest bei Menschen, deren Schuld erwiesen sei. Und für noch etwas forderte der CD&V-Präsident eine Erklärung: wie es sein könne, dass "Acid" für sein Video nun potenziell eine höhere Strafe drohe als den Reuzegom-Studenten.
Außerdem äußerte Mahdi auch Verständnis dafür, dass manche Menschen nun von einer "Klassenjustiz" redeten, in der mit zweierlei Maß gemessen werde. Die Tatsache, dass "Acid" zur Hexenjagd auf Unbeteiligte aufgerufen hat, hat Mahdi derweil anscheinend entweder übersehen oder absichtlich unter den Tisch fallen lassen.
Erwartungsgemäß haben Mahdis Äußerungen jedenfalls die bereits schwelende Kontroverse weiter befeuert. Mahdi gieße nicht nur Öl ins Feuer, sondern spiele auch mit Verschwörungstheorien, wenn er über angebliche "Klassenjustiz" schwadroniere, so etwa Reuzegom-Anwalt Joris Van Cauter im VRT-Fernsehen. Auch der flämische Journalistenverband hat mit Unverständnis auf Mahdis Attacke gegen die Medien reagiert.
Sehr sauer aufgestoßen ist die Mahdi-Eskapade aber auch dem föderalen Justizminister, Vincent Van Quickenborne von der Open VLD. Der hatte ja schon nach dem "Acid"-Video zu mehr Zurückhaltung und Ruhe aufrufen müssen. Es könne nicht sein, dass Politiker Richter und ihre Urteile angriffen, so Van Quickenborne gegenüber der VRT. So etwas könne die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats untergraben, zukünftige Urteile beeinflussen und somit die Demokratie an sich in Gefahr bringen.
Der Justizminister war damit noch nicht fertig mit dem Vorsitzenden der flämischen Christdemokraten. Im Mittelalter hätten Politiker ebenfalls vor Volkstribunalen Urteile gefällt, bevor die Menschen dann von einem Mob mit Steinen beworfen worden seien. Heute geschehe das eben über Youtube und Tiktok, so Van Quickenborne.
Inwiefern sich Mahdi derweil Freunde in seiner eigenen Partei gemacht hat mit seinem populistischen Ausfall, bleibt abzuwarten. Bisher scheint nervöses Schweigen die einzige Reaktion aus den Reihen der CD&V zu sein.
Festzuhalten ist jedenfalls auch, dass die Geschichte auch jenseits der Politik kräftig weiterköchelt. In Gent haben Unbekannte unter der Überschrift "Reuzegom-Mörder" die Namen von 20 mutmaßlichen Mitgliedern der Studentenvereinigung an Wände gesprayt.
Boris Schmidt