Delphine Lauwers vom Brüsseler Staatsarchiv fasst zusammen, was die 48 Seiten sein sollen, an denen sie und ihre Mitarbeiter seit gut dreieinhalb Jahren gearbeitet haben. "Der "Jalon de recherche" ist ein Hilfsmittel für alle "Mischlinge" aus der Kolonialzeit, die ihre eigene Abstammung rekonstruieren wollen", sagt sie im Gespräch mit dem BRF.
In dem Jalon (Meilenstein) werden laut Lauwers die Sammlungen von historischen Dokumenten vorgestellt, in denen Informationen über "Mischlinge" zu finden sind. Es wird angegeben, in welchen Archiven diese Sammlungen zu finden sind.
"Mischlinge", die etwas über ihre Abstammung erfahren wollen, bekämen dadurch Hinweise, wo sie suchen können.
Das hört sich ziemlich speziell an. Doch mit dem Jalon setzt das Staatsarchiv eine auf föderal-politischer Ebene beschlossene Forderung um. 2018 hatte die Kammer die sogenannte "Resolution métis" einstimmig verabschiedet. Darin wurde bestimmt, dass sich das Staatsarchiv in Brüssel in zwei Projekten um die Aufarbeitung des Kapitels der "Mischlinge" aus Belgiens Kolonialgeschichte kümmern soll.
Seine eigene Identität kennen
In der zweiten Phase, die im Februar vergangenen Jahres begonnen hat, soll eine umfassende Geschichte über den Umgang Belgiens mit den "Mischlingen" erarbeitet werden. In Phase eins sollte das entstehen, was der Jalon jetzt bietet: Ein möglichst umfassender Überblick, wo überall in Archiven Informationen über "Mischlinge" aus den belgischen Kolonien Kongo, Ruanda und Burundi zu finden sind.
"Es geht darum, seine eigene Identität zu kennen", erläutert Projekt-Co-Leiterin Delphine Lauwers. "Das Recht zu wissen, wo man herkommt, ist immerhin ein Grundrecht. Und die Politik der Kolonialzeit hat zahlreiche 'Mischlinge' daran gehindert, dieses Recht für sich einzufordern. Seine eigene Familie, seine eigene Identität zu kennen."
Die Forschung nach den Eltern und Vorfahren habe aber auch ganz praktische, administrative Gründe. "Viele 'Mischlinge' besitzen nicht einmal die grundlegenden Dokumente, die für administrative Angelegenheiten notwendig sind. Wie zum Beispiel eine Geburtsurkunde. Das hat einigen 'Mischlingen' ihr ganzes Leben lang Schwierigkeiten bereitet", berichtet Lauwers.
Durch den jetzt veröffentlichten "Jalon de recherche" wird sich die Situation für die "Mischlinge" allerdings nicht von jetzt auf gleich komplett ändern. Zwar sei es gut, zu wissen, wo man etwas nachfragen könne. Aber die Suche nach einzelnen Dokumenten müsste meistens dann doch wieder von Mitarbeitern der Archive geleistet werden, sagt Lauwers. Weil Archivarbeit eben auch kompliziert sei.
Zum anderen sei die Projektarbeit auch nicht abgeschlossen. Immer wieder entdecke ihr Team neue Sammlungen mit Informationen über "Mischlinge" aus Belgiens Kolonialzeit. Das sei ein offener Prozess.
Wie viele Menschen von dem Jalon profitieren können, ist nicht bekannt. 250 Anfragen sollen seit Beginn des Projekts beim Archiv eingegangen sein. Viele "Mischlinge" sind bereits gestorben. Aber sie habe persönlich auch einmal eine Anfrage der Nichte eines "Mischlings" bearbeitet, erzählt Delphine Lauwers.
Die Aufarbeitung dieses Kapitels der Kolonialzeit als wichtige Arbeit gelte ausdrücklich auch für die Menschen in der Deutschsprachigen Gemeinschaft. "Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist vollwertiger Teil von Belgien und teilt daher auch die Kolonialgeschichte des Landes. Die Vergangenheit gut zu kennen, ist eine Möglichkeit, sich der Fehler der Vergangenheit bewusst zu werden. Und ich glaube, dass es sehr wichtig ist, diese bewegte Geschichte besser zu kennen."
Hinweis des BRF-Chefredakteurs Stephan Pesch: Die problematische Verwendung des Begriffs "Mischling" ist uns bewusst. Leider gibt es bei dem beschriebenen Sachverhalt keinen neutralen Begriff, der anstelle dessen verwendet werden könnte. Dieser bezieht sich ausdrücklich auf die Kolonialzeit, in der die problematischen Begriffe "Métisse" (oder "Mischling") gebräuchlich waren. Aus diesem Grund haben wir den Begriff in Anführungszeichen gesetzt.
Kay Wagner