Am Anfang steht Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches. Im wörtlichen Sinn, denn mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 beginnt die Ausstellung. Der Paragraph stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe und erlaubte damit juristisch ihre Verfolgung.
Bevor die Ausstellung zur namensgebenden Zeit kommt, die "Schwule und Lesben in Nazi-Europa" erleiden mussten, behandelt sie zunächst das Kapitel "Hoffnung auf Emanzipation", das Aufblühen von homosexueller Subkultur, Aufklärung und Aktivismus zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1930er-Jahren. Wobei der damalige Begriff "Homosexualität" ein sehr breiter Sammelbegriff war für alles, was heute separate Gruppen der LGBTQI+-Gemeinschaft sind.
Dieser Hoffnung bereiteten die Nazis aber bald ein brutales Ende. Zunächst in Deutschland, wo sie nach ihrer Machtergreifung 1935 den Paragraph 175 deutlich verschärften. Im Anschluss aber natürlich auch in den Teilen Europas, die nach und nach unter ihre Kontrolle gerieten.
Männer gefährdeter als Frauen
Etwa 100.000 homosexuelle Männer seien von den Nazi-Behörden erfasst worden, so Florence Tamagne, wissenschaftliche Kuratorin der Ausstellung, im Interview mit dem BRF. Sie ist Dozentin für zeitgenössische Geschichte an der Universität Lille und Expertin für die Geschichte der Homosexualität. 50.000 von ihnen seien verurteilt worden, 5.000 bis 15.000 in Lager gekommen, wo etwa die Hälfte umgekommen sei.
Schwule Männer waren dabei meist gefährdeter als lesbische Frauen - auch das thematisiert die Ausstellung. Wenn Frauen jedoch aus anderen Gründen ins Visier des Regimes gerieten, etwa weil sie Jüdinnen waren oder Kommunistinnen, konnte ihre Homosexualität durchaus einen zusätzlichen Risikofaktor darstellen.
Ganz entscheidend für das Schicksal von Homosexuellen war aber, wo sie sich befanden, insbesondere wie gesagt bei Männern: Paragraph 175 galt nominell nur innerhalb Deutschlands. Die Ausstellung vergleicht deshalb die Situation dort unter anderem mit der in Frankreich, den Niederlanden und Belgien.
Im besetzten Belgien habe es keine echte Verfolgung von Homosexuellen gegeben, so Tamagne. Denn Paragraph 175 habe hier nicht gegolten. Das homosexuelle Leben habe also auch während des Zweiten Weltkriegs weitergehen können - wenn auch in diskreter Form. In den seltenen Fällen, in denen belgische Staatsangehörige in Belgien von den Deutschen wegen Homosexualität verhaftet worden seien, sei es eigentlich vor allem um homosexuelle Beziehungen zu deutschen Soldaten gegangen.
Lage in annektierten Gebieten komplizierter
Noch einmal komplizierter war die Lage in annektierten Gebieten. Denn hier galten nicht überall beziehungsweise nicht einmal für alle Volksgruppen in einem Gebiet die gleichen Regeln. Im annektierten Elsass und Moseldepartement hätten die Deutschen beispielsweise Paragraph 175 angewandt. Für die annektierten ostbelgischen Gebiete habe die Forschung jedoch bisher keine Hinweise auf Verhaftungen wegen Homosexualität finden können.
Aber unabhängig von der Herkunft: Waren sie erst einmal in einem Nazi-Lager, sah es schlecht für Homosexuelle aus. In der lagerinternen Rangordnung standen sie fast ganz unten, nur knapp über Juden. Sie hätten meist nicht einmal auf die Solidarität nicht-homosexueller Mitgefangener rechnen können, was ihre Überlebenschancen noch einmal verschlechtert habe.
Eines müsse man aber betonen: Zu keinem Zeitpunkt habe Deutschland eine systematische Ausrottungspolitik gegen Homosexuelle betrieben. Auch wenn sie zeitweise gezielt zu Tode gearbeitet oder an ihnen medizinische Experimente durchgeführt worden seien, sei das Ziel der Nazis im Kern Umerziehung und Reintegration gewesen, nicht zuletzt ins Militär. Je länger und schlechter der Krieg für die Deutschen lief, desto höher war sogar die Chance für Schwule, den Lagern durch einen (wenn auch gefährlichen) Einsatz in der Wehrmacht zu entkommen.
Das Ende des Krieges bedeutete für viele Homosexuelle aber nicht das Ende ihres Leidensweges: Paragraph 175 blieb in beiden Deutschlands noch Jahrzehnte in Kraft, wenn auch nach und nach abgeschwächt. In der DDR wurde er erst 1988 ersatzlos gestrichen, in der Bundesrepublik musste man darauf sogar bis 1994 warten. Auch anderorts mussten sie sehr lange warten. Deswegen schließt die Ausstellung mit dem Kampf um die Anerkennung von Homosexuellen als Opfer des Nazi-Regimes.
Die Ausstellung "Schwule und Lesben in Nazi-Europa" läuft noch bis zum 10. Dezember 2023. Weitere Informationen gibt es auf der Homepage des Museums der Kaserne Dossin.
Boris Schmidt