Die Abschlusserklärung, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten nach zähen Verhandlungen geeinigt haben, ist sehr vage formuliert. Anders gesagt: Sie bietet viel Spielraum für Interpretationen – auch und gerade für die Politik. Denn obwohl die sehr umstrittenen Begriffe "Grenzmauern" beziehungsweise "Grenzzäune" nicht im Text auftauchen, jubelte beispielsweise Österreich, dass es jetzt – wie gefordert – EU-Gelder für genau solche Grenzinfrastruktur geben werde.
Premierminister Alexander De Croo hingegen will die Einigung deutlich differenzierter dargestellt sehen – sicher auch aus Rücksicht auf die eigene, bekanntlich sehr heterogene Regierungskoalition. Denn vor allem die Grünen und in geringerem Maß wohl auch die frankophonen Sozialisten sind nicht zu haben für eine neue Migrationspolitik der Mauern und Zäune, also der demonstrativ harten Hand.
Es sei ihm durchaus bewusst, dass auch in Belgien versucht werde, die Diskussion über die Außengrenzen der Europäischen Union auf die Zaun-Frage zu reduzieren, sagte De Croo am Morgen im Interview mit der VRT. Die Außengrenzen Europas seien aber sehr lang – es hänge also vom jeweiligen Ort ab, wie man sie sichern und überwachen wolle. Während es an manchen Orten um Infrastrukturen und Überwachungstechnologien wie Infrarotkameras und Drohnen gehen werde, werde es an anderen um Einrichtungen zur Erfassung von Flüchtlingen gehen.
Keine "Festung Europa"
Es gehe nicht darum, eine Art "Fort Europa" zu schaffen, betonte De Croo. Er bevorzuge die Darstellung der föderalen CD&V-Asylstaatssekretärin Nicole De Moor: ein Zaun, ja – aber eben ein Zaun mit einer Pforte, um kontrollieren zu können, wer hineinwolle.
Es müsse schon an den Grenzen der Union unterschieden werden, welche Menschen ein Anrecht auf Schutz hätten und welche nicht, das sei der entscheidende Punkt, so der Premier sinngemäß. Das heutige System mit seinen unzureichenden Kontrollen sei letztlich schuld daran, dass nicht allen Menschen mit legitimen Ansprüchen auch tatsächlich Schutz in der EU gewährt werden könne.
Deswegen verwehrt sich De Croo auch gegen die Bezeichnung "harte Vorgehensweise" gegen Flüchtlinge. Es sei vielmehr eben eine "korrekte Vorgehensweise" um sicherzustellen, dass diejenigen Schutz bekommen könnten, die ihn auch tatsächlich bräuchten. Was aktuell nicht der Fall sei, einfach, weil zu viele Menschen in die EU und nach Belgien strömten. Wenn man Bedürftigen richtig helfen wolle, dann müsse es wirksame Kontrollen an den Außengrenzen geben.
Norden und Süden im Einklang
De Croo hob auch hervor, dass es mit der Einigung der vergangenen Nacht erstmals gelungen sei, die Bedürfnisse der südlichen und nördlichen EU-Länder in Einklang zu bringen. Man sei einerseits übereingekommen, Ländern wie Italien oder Griechenland bei der Sicherung ihrer Außengrenzen zu helfen und dass die sogenannten Dublin-Regeln evaluiert und reformiert werden müssten. Die besagen ja im Kern, dass ein Flüchtling im ersten EU-Land, das er betritt, um Asyl bitten muss, sein Antrag dort bearbeitet wird und er so lange auch dort untergebracht wird.
Und andererseits stehe eben auch im Abschlusstext, dass die Dublin-Regeln respektiert und durchgesetzt werden müssten – zumindest bis man sich auf einen Migrationspakt einigen werde. Das komme den Ländern entgegen, die besonders unter sekundären Migrationsbewegungen leiden, also der Weiterreise von Flüchtlingen innerhalb der EU, wie Belgien und den Niederlanden.
Ein weiterer Schritt müsse dann sein, dass Flüchtlinge auch auf andere Länder verteilt werden könnten, wenn die Kapazitäten eines Landes erschöpft seien, so wie es bei der Unterbringungskrise in Belgien der Fall sei.
Und dann sei da noch ein drittes Element, das zur Lösung der Flüchtlingskrise beitragen könne: Nämlich eine verstärkte Zusammenarbeit der EU-Staaten bei der gemeinschaftlichen Ausweisung von Menschen, die kein Anrecht auf Asyl hätten, so der Premierminister.
Boris Schmidt