Wenn man die Beschreibung der Zustände im Inneren des großen Gebäudes in der Rue des Palais in Schaerbeek hört, kommt einem unweigerlich ein bestimmter Begriff in den Sinn: "höllisch". Denn was man da hört, das erinnert doch viel eher an einen dystopischen Endzeitfilm als an die belgische und europäische Hauptstadt des Jahres 2023.
Niemand weiß wirklich, wie viele Menschen sich aktuell in dem besetzten Gebäude aufhalten. Bei der letzten Zählung seien es etwa 700 Personen gewesen, so Magali Clerbaux vom Roten Kreuz Brüssel bei Radio Eén. Mittlerweile schätze man die Zahl aber eher auf 900 bis 1.000 Menschen, was selbst in einem so großen Gebäude eine extreme Überbevölkerung darstelle.
Auf Fotos aus dem Inneren sieht man denn auch dicht an dicht gepackte Massenlager aus Matratzen und anderen provisorischen Schlafstätten, überall hängt Kleidung und liegen Habseligkeiten herum. Die Menschen hausen hier unter sanitären Bedingungen, wie man sie höchstens in Katastrophen- und Kriegsgebieten erwarten würde. Zwei Duschen und drei Toiletten müssen sich all diese Menschen teilen.
Es gebe dort Krätze- und Diphtherie-Epidemien, so Magali Clerbaux. Fälle von Tuberkulose soll es ebenfalls bereits gegeben haben. Auch mit der mentalen Gesundheit vieler Menschen gehe es immer weiter bergab.
Seit Oktober ist das Haus besetzt, seitdem nimmt die Zahl der Menschen kontinuierlich weiter zu. Wer sie eigentlich sind, das scheint niemand so genau zu wissen, nur dass es sich ausschließlich um alleinstehende Männer handeln soll, also nicht um Familien und im Normalfall auch nicht um allein reisende Minderjährige.
Die meisten seien Asylsuchende, denen Fedasil noch keine Unterkunft gegeben habe, weist zum Beispiel die Gemeinde Schaerbeek dem Föderalstaat die Verantwortung für die Lage zu. Vom Roten Kreuz heißt es ebenfalls, dass zumindest drei Viertel der von ihnen medizinisch betreuten Menschen einen Asylantrag gestellt hätten.
Man habe bislang unter all diesen Menschen nur etwa 100 Personen identifizieren können, die Recht auf eine Aufnahme hätten, so aber Asylstaatssekretärin Nicole de Moor. 84 von ihnen seien bereits anderweitig untergebracht worden. Es scheine also, als ob sehr viele Menschen in dem besetzten Gebäude gar keine Asylsuchenden seien und Fedasil also nicht für sie zuständig sei.
Neben Asylsuchenden leben jedenfalls auch andere Menschen in dem Gebäude: Obdachlose zum Beispiel oder Menschen, die sich illegal im Land aufhalten beziehungsweise keine Papiere haben. Es ist ein explosiver Cocktail, wie auch das Rote Kreuz feststellt. Die Spannungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften nähmen zu. Außerdem gebe es mehr und mehr Gewalt in dem Gebäude, die Menschen dort seien nicht mehr sicher.
Selbst die Mitarbeiter des Roten Kreuzes könnten sich mittlerweile nicht mehr in das Innere des Gebäudes begeben, weil ihre Sicherheit dort nicht mehr garantiert werden könne. Man müsse sich deswegen aktuell auf ein Hilfsangebot in einem Container vor dem Gebäude beschränken. Und das sei ein Problem, so die Rotkreuz-Verantwortliche. Denn einige der Menschen in dem Gebäude, die am dringendsten Hilfe benötigten, könnten sich auch nicht mehr bewegen.
Einen Toten hat es in dem Gebäude bereits gegeben. Im Dezember starb ein Mann, der sich illegal in Belgien aufhielt, vermutlich an einer Überdosis. Kurz darauf sollen Unbekannte in das Gebäude eingedrungen sein, ein Mann wurde durch Messerstiche schwer verletzt. Unter solchen Umständen sei es eigentlich nicht hinnehmbar, die Menschen weiter in dem Gebäude zu belassen, so Clerbaux.
Warum sich niemand – sei es nun die föderale, regionale oder lokale Ebene – dazu durchringen kann, zumindest eine Liste der Bewohner des Gebäudes anzulegen, bleibt indes unklar. Genauso wie die Antwort auf die Frage, warum trotz der offenkundigen Besorgnis aller Betroffenen noch immer keine anderweitigen temporären Aufnahmemöglichkeiten geschaffen worden sind. Das sei eine politische Entscheidung, so die trockene Antwort der Rotkreuz-Verantwortlichen.
Boris Schmidt