Wer häufig den Zug nehmen muss, der kann ein Lied davon singen: Frustrierend oft scheint es ein reines Glücksspiel zu sein, ob der Zug pünktlich abfährt beziehungsweise am Ziel ankommt. So mancher Reisender schätzt sich sogar schon glücklich, wenn der gewünschte Zug überhaupt kommt und nicht kurzfristig gestrichen wird oder ausfällt. Denn dann verliert man nicht nur potenziell sehr viel Zeit. Logischerweise ist der nächste Zug dann manchmal auch noch gnadenlos überfüllt, gerade zu Stoßzeiten. Das Gleiche passiert, wenn Züge aus Mangel an einsatzbereitem rollendem Material kürzer sind als gewöhnlich. Dann hat man nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera, also entweder gar nicht zu fahren oder seinen Mitmenschen unfreiwillig sehr dicht auf die Pelle rücken zu müssen.
Pünktlichkeit auf Tiefpunkt
Das sind keinesfalls nur Klischees: Im Oktober etwa waren 15 Prozent der belgischen Züge verspätet. Das bedeutet, dass sie mindestens sechs Minuten später als geplant abgefahren sind. Oder anders gesagt: Nur 85 Prozent waren pünktlich.
Und dabei sind die ausgefallenen Züge noch gar nicht mit eingerechnet, wie der Fahrgastverband "Naveteurs.be" hervorhebt. Allein im Oktober seien fast 3.800 Züge komplett ausgefallen, wettert deren Sprecher am Montag in der Zeitung "La Dernière Heure". Laut den Zahlen der SNCB ist die Pünktlichkeit ihrer Züge mittlerweile sogar auf dem schlechtesten Stand in vier Jahren angelangt.
Zu wenig Investitionen
Die Reisenden verdächtigen im Zweifelsfall angesichts dieser Missstände natürlich erst einmal die Bahn selbst. Aber damit zeigt der Finger eigentlich auf die Falschen. Das sagt nicht nur die SNCB, sondern auch die Gewerkschaften.
Und auch der Fahrgastverband "Navetteurs.be" schließt sich dieser Einschätzung an. Für sie alle ist klar: Das Hauptproblem sind fehlende beziehungsweise zu geringe Investitionen in den Schienenverkehr, also in die SNCB und Schienennetzbetreiber Infrabel, durch die Föderalregierung.
Das ist ein Befund, den eigentlich auch der zuständige Föderalminister teilt, der Grüne Georges Gilkinet. In der Vergangenheit, sprich von den Vorgängerregierungen, seien schlechte Entscheidungen gefällt worden und sei zu wenig investiert worden. Man sei noch immer dabei, für die Fehler der Vergangenheit zu bezahlen. Diese Entwicklung werde man umkehren, was aber eben auch seine Zeit erfordern werde.
Allerdings muss Gilkinet nach dem letzten Haushaltskonklave aufgrund der angespannten Lage der Staatskasse deutlich kleinere Brötchen backen als er eigentlich wollte. Dadurch könne die Bahn ihre Ambitionen nicht mehr erfüllen, beklagen die Gewerkschaften. Es mangele an Personal und finanziellen Mitteln, die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich immer weiter, so ihr Vorwurf. Und deswegen wird jetzt eben gestreikt.
Die Investitionen fielen zwar geringer aus als von SNCB und Infrabel gefordert, räumte Gilkinet am Montagmorgen gegenüber der RTBF ein. Aber immerhin sei die Bahn eines der wenigen Ressorts, in die der Föderalstaat mehr Geld investiere. Es sei sichergestellt, dass die SNCB auch mit diesen geringeren Mitteln die gesteckten Ziele erreichen werde.
Mehr Personal
Es sei das erste Mal, dass man einen Zehnjahresrahmen mit festen finanziellen Verpflichtungen vonseiten des Staates erreicht habe, wiederholte Gilkinet eines seiner bereits mehrfach gehörten Argumente. Bis Ende des Jahres werde die Regierung die Geschäftsführungsverträge mit SNCB und Infrabel beschließen, versicherte er.
Außerdem habe man auch bereits beschlossen, die Anwerbung neuer Mitarbeiter zu beschleunigen. Um einen zusätzlichen Puffer zu schaffen, würden sogar 300 Personen mehr eingestellt als ursprünglich vorgesehen.
Neben der verstärkten Rekrutierung werde man auch anderweitig gegen Verspätungsgründe vorgehen, etwa gegen Menschen, die unerlaubt die Gleise überquerten und so die Fahrpläne durcheinanderbrächten.
Es würden auch keine Zuglinien eingestellt werden, so der Minister weiter. Des Weiteren habe er erreicht, dass das Pensionssystem der Bahnangestellten nicht infrage gestellt werde. Und man sei auch bereits dabei, Änderungen durchzuführen, damit die Angestellten ihr Recht auf Urlaub auch wahrnehmen könnten, so der Mobilitätsminister in Richtung der Gewerkschaften.
Mindestdienst
Die SNCB will am Dienstag versuchen, einen Mindestdienst zu gewährleisten. Passagieren wird geraten, sich auf der Internetseite der SNCB zu informieren.
Boris Schmidt