Der "flämische Kanon", das ist eigentlich ein Steckenpferd der flämisch-nationalistischen N-VA. Bei der Bildung der aktuellen flämischen Koalition im Jahr 2019 schrieb die Partei das Projekt in das Regierungsabkommen.
Der Kanon wäre eine Liste der Meilensteine der flämischen Geschichte und Kultur: Wie wurde Flandern zu dem, was es heute ist? Welche Schlüsselereignisse gab es, welche Persönlichkeiten haben den niederländischsprachigen Norden Belgiens besonders geprägt? So eine Art "Lebenslauf" der Region also.
Das wäre dann nicht nur der Leitfaden für den Geschichtsunterricht im Norden des Landes, sondern auch verpflichtetes Grundwissen, das allen Neuankömmlingen im Rahmen des Einbürgerungskurses vermittelt würde: institutionalisierte Leitkultur. Letztlich geht es hier um die Förderung einer gemeinsamen, flämischen Identität.
Das Projekt war von Anfang an umstritten. In den letzten Monaten war es aber ruhig um den ominösen Kanon geworden. So mancher hatte ihn vielleicht schon wieder vergessen. Das gilt offensichtlich nicht für eine Gruppe von flämischen Geschichtsprofessoren. Die haben jetzt eine umfangreiche Streitschrift veröffentlicht.
Auf gut 80 Seiten erklären sie, warum ihnen der geplante Kanon Bauchschmerzen bereitet - harmlos ausgedrückt. Denn eigentlich ist es vernichtende Kritik, die die Hochschuldozenten da äußern. Unterzeichnet wurde der Text von drei Professoren, die an den Unis von Löwen und Gent arbeiten. Historiker aller anderen Universitäten im Norden des Landes haben sich aber dem Standpunkt angeschlossen.
Identität kann nur von unten wachsen
Grundsätzlich sei es nunmal so, dass man Identität nicht von oben herab oktroyieren kann, sagte in der VRT Jo Tollebeek, Historiker und Professor für Kulturgeschichte an der Katholischen Universität Löwen. Und erst recht eigne sich die Geschichteforschung nicht dafür. Identität könne nur von unten wachsen.
Er und seine Kollegen hätten sich erstmal gefragt, welche Motive die flämische Regierung und insbesondere die N-VA da wohl verfolgen könnten. Der Befund: Vor allem der N-VA sei die nach wie vor bestehende Belgienverbundenheit ein Dorn im Auge, die man also aushöhlen müsse. Und die zu fördernde flämische Identität sollte zudem möglichst "sauber" sein, also frei von äußeren Einflüssen.
Nicht nur, dass der "flämische Kanon" dann zwangsläufig den Eindruck erwecken werde, dass Flandern eine Insel sei. Das Ganze werde zudem einen fast schicksalhaften Charakter bekommen, in dem Sinne, dass die Schaffung eines - gemäß der N-VA-Vision - irgendwann "unabhängigen Flanderns" quasi vorbestimmt war.
Hier werde Geschichte politisch instrumentalisiert. "Im Grunde projiziert man das heutige Flandern in die Vergangenheit", sagt Jo Tollebeek. Man zeigt, dass Flandern nicht vom Himmel fällt, sondern fest in der Vergangenheit verankert ist, dass es Flamen gab, die Schritt für Schritt dazu beigetragen haben, dass Flandern am Ende zu einem Staat wird.
Belgische Nationalgeschichte
Das gab es in Belgien schonmal. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Historiker, allen voran den vielgerühmten Henri Pirenne, die im Grunde ein "belgisches Narrativ" niedergeschrieben haben, eine "Nationalgeschichte", die ihre Wurzeln lange vor der Unabhängigkeit 1830 hatte, die aber letztlich eine Nachdeutung war.
Und das führt zwangsläufig zu Anachronismen, meint Professor Jo Tollebeek. So wie Pirenne einen Gottfried von Bouillon zum belgischen Nationalhelden verklärt hat, so wird im flämischen Kanon am Ende vielleicht ein Peter Paul Rubens plötzlich zum Flamen, der einen wichtigen Beitrag zur flämischen Geschichte geleistet hat. Dabei war Rubens ein deutscher Brabanter.
Und was ist eigentlich ein Flame? Im Mittelalter gab es zwar die Grafschaft Flandern, das heutige Flandern umfasst aber noch weitere der damaligen Grafschaften bzw. Herzogtümer. "Der Begriff 'Flandern' hat erst seit 1860 seine heutige Bedeutung", sagt Jo Tollebeek.
Der flämische Unterrichtsminister Ben Weyts, in dessen Auftrag der Kanon verfasst wird, reagierte bereits mit Unverständnis auf die Kritik aus der akademischen Welt. "Der Text liegt doch noch nicht einmal vor, worüber reden die Hochschuldozenten überhaupt?", fragte sich der N-VA-Politiker sinngemäß auf Twitter.
"Uns geht es ja auch eben nicht um den Inhalt, sondern ums Prinzip", entgegnet Tollebeek. Geschichte werde hier vereinfacht und wie ein homogener, geradliniger Prozess dargestellt. Die Welt sei aber von Natur aus komplex.
Roger Pint
In der historischen Grafschaft Flandern wurde Deutsch, Französisch und Flämisch gesprochen. Diese Tatsache wird den flämischen Nationalisten bestimmt nicht gefallen...