"Dieser Fall ist nach belgischen Maßstäben historisch. Eine regelrechte Katastrophe", sagt Klaus Vanhoutte, Direktor der Organisation Payoke, die sich um die Opfer von Menschenhandel kümmert. Und ihm, der schon einiges gesehen hat, fehlen die Worte. Der Fall von Menschenhandel, der im Antwerpener Hafengebiet aufgedeckt wurde, sprengt alle Rahmen.
In der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass 55 Bauarbeiter wohl das Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Die Männer aus Bangladesch bzw. von den Philippinen arbeiteten auf einer Baustelle im Antwerpener Hafen. Dort lässt der österreichische Chemiekonzern Borealis gerade eine neue Fabrik errichten.
Besagte Arbeiter wurden dort schamlos ausgebeutet. An sechs von sieben Tagen musste gearbeitet werden. Untergebracht waren sie in einer verlotterten Wohnung in Antwerpen. Das Ganze für einen Monatslohn von gerade einmal 500 bis 600 Euro.
55 illegale Leiharbeiter, das war schon eine sehr große Gruppe. Das war aber noch gar nichts. Seit Bekanntwerden des Falls meldeten sich immer weitere Opfer. Dienstagnachmittag standen plötzlich über 100 türkische Arbeiter vor einem Antwerpener Polizeikommissariat.
Laut Gazet van Antwerpen kamen sie auch von der Borealis-Baustelle und wollten Klage einreichen wegen der dort herrschenden unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Zudem seien sie mit falschen Versprechen nach Belgien gelockt worden.
Inzwischen 174 mutmaßliche Opfer
Unterm Strich sind es inzwischen jedenfalls schon 174 mutmaßliche Opfer, die jetzt in dieser Akte identifiziert wurden: 17 Bangladescher, 52 Philippiner und 105 Türken. "Ein solcher Fall ist uns noch nie untergekommen", sagte in der VRT Pieter Wyckaert vom zuständigen Arbeitsauditorat Antwerpen. "Wir geben unser Bestes, aber die Ermittlungen übersteigen unsere aktuellen Kapazitäten. Und auch die der Hilfsorganisationen."
Das kann Klaus Vanhoutte von der Vereinigung Payoke nur bestätigen. Die erste Gruppe von 55 mutmaßlichen Opfern habe man noch unterbringen können. Die nötige psycho-soziale Unterstützung hätten sie allerdings noch nicht bekommen. "Aber wenn da jetzt noch mal einige Dutzend, vielleicht sogar über 100 Menschen hinzukommen, dann ist es für uns schlicht und einfach unmöglich, für diese Leute Essen und ein Dach über dem Kopf zu organisieren."
Die Kapazitäten sind da in der Tat sehr begrenzt. Es gibt landesweit nur drei Auffangzentren, wo Opfer von Menschenhandel untergebracht werden können. Hier stehen insgesamt nur 55 Plätze zur Verfügung. Wenn jetzt von 174 illegalen Leiharbeitern die Rede ist, dann sieht man schon, dass der bestehende Rahmen da vollends gesprengt wird.
Hinzu kommt: All diese Menschen müssen ja jetzt auch erstmal verhört werden. Und es sei nicht auszuschließen, dass sich in den nächsten Tagen noch weitere Opfer bei den Behörden melden.
Versteckspiel
Die Frage aller Fragen lautet also mehr denn je: Wer ist verantwortlich für dieses Desaster? Der Chemiekonzern Borealis hatte gleich auf den Subunternehmer verwiesen, die Firma IREM-Ponticelli, und später dann auch die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen bis auf weiteres beendet. IREM-Ponticelli wies seinerseits auch alle Vorwürfe zurück und brachte eine Zeitarbeitsfirma ins Spiel, die für die Rekrutierung zuständig gewesen sei.
Eben mit einem solchen Versteckspiel hatten die zuständigen Ermittlungsbehörden von Anfang an gerechnet: ein Geflecht von Unternehmen und Subunternehmen, das es nahezu unmöglich macht, die genauen Verantwortlichkeiten zu klären.
Justizminister Vincent Van Quickenborne stellt sich inzwischen die Frage, ob diese Angelegenheit nicht eine internationale Tragweite hat. Er habe inzwischen den Eindruck, dass wir es hier mit einem weitverzweigten Fall von Menschenhandel zu tun haben. Entsprechend werde man die Suche nach den Schuldigen wohl über die Grenzen hinaus ausweiten müssen.
Roger Pint