"Vorgezogene Neuwahlen? Das Gerücht ist in Umlauf", schreibt heute schon die Zeitung Le Soir. Normalerweise steht die nächste Wahl erst im "Superwahljahr" 2024 an. Aber Le Soir spricht das aus, was viele womöglich denken würden, aber nicht denken wollen. Denn inzwischen ist es offensichtlich: In der Vivaldi-Koalition ist der Wurm drin.
Es gibt wohl keine Akte mehr, in der sich die Equipe nicht überwirft. Jüngstes Beispiel ist der Knatsch über ein mögliches Verbot von Glücksspielwerbung. Der Open-VLD-Justizminister Vincent Van Quickenborne wollte da ganz offensichtlich einen Alleingang durchziehen, an der Regierung vorbei. Weil er wohl die frankophone Schwesterpartei MR umschiffen wollte, von der er wusste oder ahnte, dass sie das Verbot nicht mittragen würde. Die Bestätigung kam postwendend: Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez warf sich quasi vor den fahrenden Zug. Ob aus dem Werbeverbot für Glücksspiele überhaupt noch etwas wird, ist fraglich.
Das ist aber nur ein Beispiel für den Dauerzwist unter den Vivaldisten. Als der hohe Finanzrat seine Empfehlungen mit Blick auf die geplante Steuerreform vorlegte, gab es auch schon wieder hörbare Misstöne innerhalb der Koalition. Der Frust ist so groß, dass der Groen-Politiker Kristof Calvo schon dafür plädierte, den Regierungsvertrag neu zu schreiben oder zumindest zu aktualisieren. Das spricht nicht wirklich für grenzenloses Vertrauen in den aktuellen Kurs.
Den vorläufigen Höhepunkt gab es aber am Dienstagabend. Asylstaatssekretär Sammy Mahdi war zu Gast in der VRT-Talkshow "De Afspraak". Mahdi hat beste Aussichten, der nächste Vorsitzende der CD&V zu werden, nachdem ja Joachim Coens seinen Rücktritt angekündigt hat. Es heißt, Coens habe damit reagiert auf die katastrophalen Umfragewerte, die Ende letzter Woche bekannt wurden. Demnach dümpeln die flämischen Christdemokraten bei unter neun Prozent. Für eine Partei, die unter dem Sigel "CVP" jahrzehntelang in Flandern den Ton angegeben hat und geradezu allmächtig war, ist das quasi der Absturz in die Hölle.
Dieser Sammy Madhi wollte aber nicht unbedingt einen alleinigen Zusammenhang sehen zwischen dem Abgang seines Parteichefs und der besagten Umfrage. "Wissen Sie", sagte Mahdi und schaltete dann offensichtlich alle Filter aus: "Wir sitzen in einer föderalen Koalition, in der es schon mal heiß her geht. Und man weiß ja nicht, wie sich das Ganze entwickeln wird."
"Man stelle sich etwa vor, dass die Regierung gegen Ende des Jahres infolge all dieser Spielchen plötzlich stürzt ... Naja, als Partei muss man jedenfalls auf mögliche vorgezogene Neuwahlen vorbereitet sein und dafür sorgen, dass nicht ausgerechnet in einem solchen Augenblick eine interne Vorstandswahl ansteht."
Große Augen im VRT-Studio. Nach dem Motto: Hat Mahdi da gerade tatsächlich von möglichen Neuwahlen Ende dieses Jahres gesprochen? Und das so, als wäre es das Normalste der Welt. Das war aber offensichtlich kein Freud'scher Versprecher. Als die Moderatorin nachfragt, rudert Mahdi nur bedingt zurück: Die Frage sei einfach gewesen, wie man die Partei mit Blick auf 2024 optimal aufstellen kann - oder potentiell auch für Wahlen im Jahr 2023. Jedenfalls sei man zu dem Schluss gekommen, dass sich die Partei am besten so schnell wie möglich neu aufstellt.
Das mag sich also durchaus so anhören, als seien vorgezogene Neuwahlen absolut kein Tabu mehr, als sei eine solche Option auf jeden Fall ein Thema hinter den Kulissen. Genau das hat auch die Zeitung Le Soir festgestellt, die mal ihre Fühler ausgestreckt und sich unter Vertretern der Vivaldi-Parteien umgehört hat. Wenn die Mikros einmal ausgeschaltet seien, dann mache der eine oder die andere keinen Hehl daraus, dass man von dieser Koalition genug habe, schreibt die Zeitung. Und jetzt, nach dem Ende der heißen Phase der Corona-Krise, jetzt, da in Europa ein Krieg herrscht mit seinen drastischen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, jetzt sei eine neue Zeit angebrochen. Was eine Gelegenheit wäre, die Karten vom Wähler neu mischen zu lassen.
Andere sehen in diesen Gerüchten demgegenüber nur ein politisches Manöver, um den frankophonen Liberalen Angst einzujagen. Denn es ist kein Geheimnis, dass der umtriebige MR-Chef Georges-Louis Bouchez mit seinen immer neuen Vorstößen und Vetos vielen seiner Koalitionskollegen gehörig auf den Zeiger geht. Wieder andere warnen aber vor den womöglich desaströsen Folgen einer solchen Entscheidung. Ein Sturz der Regierung mit anschließenden Neuwahlen, das käme bei vielen Wählern ganz schlecht an - und das würde letztlich nur den Extremisten in die Karten spielen.
"So wie jetzt kann und darf es aber auch nicht ewig weitergehen", meint die Zeitung Het Laatste Nieuws sinngemäß in ihrem heutigen Leitartikel. Die nötigen, längst überfälligen Reformen bleiben wieder liegen. Im Grunde dümpele die Equipe nur noch vor sich hin und erinnere damit schon jetzt, auch ohne Neuwahlen, sehr stark an eine rein geschäftsführende Regierung.
Fazit: Es mag dann doch so aussehen, als warteten zumindest einige Vivaldisten nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, um den Stecker zu ziehen.
Roger Pint
Angesichts der momentanen Weltlage eine ungünstige Zeit um so ein Gespenst loszulassen. Zumal ziemlich sicher sein dürfte, das Neuwahlen auf föderaler Ebene keine grundlegende oder gar verbessernde Änderung bringen wird. Fast schon symptomatisch, das gerade jetzt einige Regierungsmitglieder "den Stecker ziehen" wollen.
Bezahlen wird die Politik diese Sandkastenspiele mit weiterem Ansehens- und Vertrauensverlust. Und dem Erstarken des Radikalen und Extremen.
Herr Schallenberg.
Sie haben recht.
Das System ist krank. Mehr ist nicht. Das sind Weimarer Verhältnisse à la belge. Würde mich nicht wundern, wenn einer den Stecker zieht in einem Anfall von Hirnlosigkeit. Es gibt einfach zuviele politische Parteien. Gäbe es nur zwei, eine an der Regierung und eine in der Opposition, wäre alles viel stabiler.
Die "rue de la loi 16" sollte umbenannt werden in "rue du Blabla 16".