Die Kammer war voll wie selten zuvor. Neben den Abgeordneten waren auch mehrere Senatoren erschienen, die Ministerpräsidenten der Teilstaaten, Mitglieder der Regierung und zahlreiche Gäste. Drei große Bildschirme zeigten in Richtung Plenarsaal. Neben den Fahnen von Belgien und der EU stand die ukrainische Fahne neben dem Rednerpult.
Kurz nachdem die Schalte in die Ukraine stand und das Bild von Präsident Selenskyj auf den Leinwänden erschien, ergriff zunächst Kammerpräsidentin Eliane Tillieux das Wort. Sie beschrieb die Lage in der Ukraine, verurteilte klar den russischen Angriff, zählte auf, wie Belgien der Ukraine bereits helfe, auch durch die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge.
Immer wieder richtete Sie Ihre Worte direkt an Selenskyj, der regungslos zuhörte. Auch, als Tillieux sagte: "Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns weiter für einen Waffenstillstand und Frieden einsetzen werden. Und für die territoriale Integrität Ihres Landes".
Kurz danach war Tillieux fertig. Die ukrainische Nationalhymne wurde von zwei polnischen Musikerinnen gespielt. Danach sprach der ukrainische Präsident. So, wie man Selenskyj oft schon gesehen hat bei seinen Reden in verschiedenen Parlamenten, so war er auch am Donnerstag zu sehen: Hinter einem Schreibtisch sitzend, am linken Bildrand die ukrainische Fahne, er selbst in einem einfachen, kahki-farbigen T-Shirt, das seine starken Armmuskeln betonte. Unrasiert und ausdrucksloses Gesicht. Schlichter Militärlook in Zeiten des Krieges.
Seine Rede zentrierte Selenskyj um das Schicksal der Stadt Mariupol. Das Leiden der Menschen dort sei groß, aber sie würden standhalten, sich dem Schicksal, dem Aggressor entgegenstellen. Heroisch kämpfen und aushalten. Mariupol sei zurzeit wahrscheinlich der schlimmste Ort, den es gebe in Europa. Die Hölle auf Erden.
"Sie in Belgien kennen so etwas ja aus Ihrer Geschichte, Ypern ist ein ähnlicher Ort gewesen", sagte Selenskyj. In Mariupol sei es zurzeit vielleicht noch schlimmer.
Selenskyj: Friede wichtiger als Diamanten
Er dankte Belgien für die bereits geleistete Hilfe, doch versäumte es auch nicht, um mehr zu bitten. "Wir brauchen Waffen", sagte er. Eine Flugverbotszone über der Ukraine müsse eingerichtet, und noch stärkere Sanktionen gegen Russland verhängt werden.
Friede sei wichtiger als Diamanten, wichtiger als russische Schiffe im Hafen von Antwerpen. Sätze, die saßen, weil sie gezielt aufzeigten, dass Belgien nicht alles tut, um Russland wirtschaftlich zu schwächen.
Seine Rede beendete Selenskyj mit einer Ehrung der Helden seines Landes, der Einwohner von Mariupol und der Ukraine.
Über eineinhalb Minuten Applaus der Zuhörer in der Kammer, den Selenskyj regungslos über sich ergehen ließ. Nur zweimal hob er zum Dank die rechte Hand an seine Brust.
Waffen für die Ukraine
Dann Sprach Premierminister Alexander De Croo. Auch er verurteilte den russischen Angriff, betonte, dass Belgien an der Seite der Ukraine stehe, zog aber auch Grenzen. Direkt an Selenskyj gerichtet sagte er: "Die Nato ist keine Konfliktpartei. Und sie sollte es auch nicht werden. Ich weiß, dass das nicht die Antwort ist, die Sie hören wollen. Aber ich glaube, Sie verstehen das Argument."
Das Argument von De Croo war, dass es bei einem Eintritt der Nato unweigerlich zu einem Krieg in ganz Europa kommen würde. Damit wäre keinem geholfen. Mehr Hilfe für die Ukraine sei allerdings schon auf dem Weg.
"Sie haben um zusätzliche militärische Unterstützung gebeten", sagte De Croo. "Ich kann Sie darüber informieren, dass die belgische Armee neue Waffen für die Ukraine bestellt hat."
Und auch De Croo schloss seine Rede mit Worten, die aufmunternd wirken sollten. Die letzten Worte sogar in Ukrainisch: "Die Ukraine wird siegen, und die Freiheit wird die Oberhand behalten. Bewahren Sie den Glauben daran."
Fragerunde
Nach der Rede des ukrainischen Präsidenten fand in der Kammer noch eine Fragerunde zu der Rede statt. Dass man Minuten zuvor eine Art historischen Moment erlebt habe, darin waren sie der Premier und die Fragesteller einig.
Georges Dallemagne von Défi kam auf den langen Applaus nach der Rede von Selenskyj zu sprechen. "Der war vielleicht auch so lang", sagte Dallemagne, "weil wir uns irgendwie schuldig fühlen angesichts des Blutbads, das wir nicht fähig sind, zu stoppen".
Weil dies wohl so sei und man klare Forderungen von Selenskyj gehört habe, wie Belgien noch mehr der Ukraine helfen könne, müsse man jetzt auch etwas tun. Es muss eine Zeit vor und nach der Rede des Präsidenten in der Kammer geben, formulierte es Dallemagne.
Premier De Croo wies es zurück, noch mehr zu tun. Man folge bei den wirtschaftlichen Sanktionen den Vorgaben der EU. Und man müsse bei Sanktionen auch immer darauf achten, dass sie Russland stärker treffen, als Belgien oder die EU selbst. Eine wirtschaftlich geschwächte EU würde niemandem helfen. Besonders nicht der Ukraine, sagte De Croo.
Kay Wagner