Welche Rolle hat die belgische Bahn SNCB im Zweiten Weltkrieg bei der Deportation von Juden, Roma und anderen Opfern der Nationalsozialisten gespielt? Das ist das Thema der neuen Studie, die am Donnerstag im Auftrag des föderalen Verkehrsministers Georges Gilkinet und der Vorsitzenden des Senats, Stéphanie d’Hose, lanciert wird.
Erstellen soll die Studie das Studien- und Dokumentationszentrum für Krieg und zeitgenössische Gesellschaft in Brüssel (CegeSoma). Dessen Leiter ist der Historiker Nico Wouters. Im flämischen Radio ordnete er am Donnerstag die Bedeutung der neuen Studie ein. "Die Tatsache, dass durch die SNCB, durch belgische Maschinisten, belgische Wagons und Lokomotiven Juden deportiert wurden, das ist kein Geheimnis. Das ist längst bekannt. Aber es gibt trotzdem noch viele Dinge, die dazu nicht bekannt sind."
Wie waren die Befehlsstrukturen? Wie aktiv hatte damals die Leitung der SNCB mit den Nazis zusammengearbeitet? Wer hatte genau was und wie warum gemacht? Gab es Möglichkeiten, sich Befehlen zu widersetzen? Gab es Sabotageakte? Solche und ähnliche Fragen will die Studie klären.
Die Forschungen dazu in verschiedenen Archiven sollen zunächst mindestens sechs Monate dauern. Eine Zusammenarbeit mit der SNCB wird angestrebt. "Die SNCB ist im Besitz von vielen historischen Dokumenten aus dieser Zeit. Wir sollten natürlich am besten gut zusammenarbeiten. Aber ich gehe auch davon aus, dass die SNCB dazu bereit sein wird. Wir werden den Kontakt mit ihr suchen und dann die Dokumente gemeinsam bearbeiten", sagt der Historiker Wouters.
Erste positive Signale seitens der SNCB zu einer Zusammenarbeit gibt es bereits. Die Zeitung De Morgen zitiert am Donnerstag Unternehmenssprecher Dimitri Temmerman mit den Worten "Wir nehmen das Anliegen der Studie sehr ernst. Wir finden es richtig, dass diese Dinge erforscht werden."
Studien in anderen Ländern
Ähnliche historische Studien, die die Rolle der Bahngesellschaften bei der Organisation des Holocausts aufgezeigt haben, gibt es bereits in anderen Ländern. In den Niederlanden kam dabei 2018 heraus, dass die niederländische Staatsbahn damals sogar Geld mit den Juden-Transporten verdient hat. Die Bahn verpflichtete sich daraufhin zu Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe an die Hinterbliebenen der Opfer.
Ob ähnliches auch für die SNCB bei der Studie herauskommen könnte? Immerhin soll es schon Hinweise darauf geben, dass die SNCB damals von Juden verlangt hat, eine Fahrkarte für ihre Deportation zu kaufen. Historiker Wouters legt sich nicht fest. "In Belgien war der historische Kontext ganz anders als in Frankreich und den Niederlanden. Das, was in diesen Ländern passiert ist, kann man nicht eins zu eins auf Belgien übertragen. Auch deshalb ist diese Studie jetzt nötig."
Etwa eineinhalb Jahre haben die Historiker zunächst Zeit, die Studie zu erstellen. Im Sommer nächsten Jahres soll das Ergebnis dem Senat überreicht werden. Die Öffentlichkeit wird dann auch ein Interesse haben, die Details aus der Studie zu erfahren.
Kay Wagner