Verbessert hat sich die Stimmung in Warschau mit der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs sicher nicht: Das Land soll ein Zwangsgeld zahlen – und zwar in einer doch beachtlich klingenden Höhe. Eine Million Euro, und zwar pro Tag, den sich Polen weigert, die richterlichen Entscheidungen aus Luxemburg zu den umstrittenen nationalen Justizreformen umzusetzen. Dabei geht es insbesondere um die Disziplinarkammer des Landes.
Polnische Richter verfolgt
Polnische Richter würden disziplinar- und sogar strafrechtlich verfolgt, weil sie EU-Recht umgesetzt hätten, erläuterte EU-Justizkommissar Didier Reynders am Freitagmorgen bei der RTBF. Das sei doch surreal – und ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, also auf ein fundamentales Element der Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Wenn Länder der Union beiträten, verpflichteten sie sich einer europäischen Justiz – und auch dazu, dass sowohl Bürger als auch Unternehmen im Konfliktfall Zugang zu Richtern hätten, die eben unabhängig seien von der Regierung.
Die EU poche nicht nur auf ein Ende der Verfolgung dieser Richter, sondern auch auf ihre Wiedereinsetzung, unterstrich Reynders. Die EU ziehe in diesem Zusammenhang auch die Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts von der Regierungspartei in Frage.
Rechtsstaat wieder einführen
Am liebsten sei es ihm im Übrigen, wenn Polen den Rechtsstaat wiederherstelle und nicht zahlen müsse, hob der Justizkommissar hervor. Das sei am einfachsten, dann könne die EU das Verfahren einstellen. Passiere das aber eben nicht, dann müsse Polen zahlen. Und sonst gebe es ja auch die finanziellen Transfers von der Europäischen Union an die Mitgliedsstaaten…
In Fällen wie mit Polen gebe es zwei Wege: Zum einen könne die EU-Kommission vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um Gesetze annullieren zu lassen, die gegen europäisches Recht oder die Rechtsstaatlichkeit verstießen.
Man werde auch gegen weitere polnische Gesetze vorgehen, kündigte Reynders an. Die Konflikte mit der polnischen Regierung erstrecken sich ja mittlerweile auf viele verschiedene Bereiche, etwa auf den Braunkohleabbau und die Behandlung von Minderheiten im Land, um nur zwei zu nennen.
Finanzielle Hebel betätigen
Der zweite Weg sei, noch mehr als bisher an den finanziellen Hebeln zu arbeiten, sprich, dass Überweisungen an den Respekt bestimmter Prinzipien gekoppelt werden, Stichwort Konditionalität. Das betreffe im Übrigen nicht nur Polen, es gebe auch andere Staaten, die sich in dieser Hinsicht problematisch verhielten. Für dieses Vorgehen ziehe die Kommission aber nicht vor den Gerichtshof, sondern vor den Rat der EU, also die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Und im Rat reiche eine qualifizierte Mehrheit, erinnerte der Justizkommissar. Die Unterstützung des EU-Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs habe man für ein solches Vorgehen bereits. Jetzt müsse eben noch auf die einzelnen nationalen Regierungen eingewirkt werden, damit sich die klarer positionieren in puncto Verstöße gegen europäische Werte und Prinzipien.
Die Frage ist natürlich, bis wohin diese Kraftprobe zwischen Polen und der EU-Kommission letztlich führen wird. Wir erinnern uns: Es ist ja noch nicht so lange her, dass ein Mitgliedsstaat die Europäische Union verlassen hat. Didier Reynders glaubt aber nicht an einen sogenannten "Polexit."
Keine Rede von einem "Polexit"
Alle Meinungsumfragen zeigten, dass 80 Prozent der Polen in der EU bleiben wollten. Und selbst der polnische Premierminister sage, dass keine Rede von einem Austritt sei. Der Fall Großbritannien sei überhaupt nicht vergleichbar, so Reynders weiter. Die Briten seien immer mit einem Fuß innerhalb und einem Fuß außerhalb der EU geblieben. Die jetzige Situation mit Polen sei also nicht vergleichbar.
Er müsse aber feststellen, dass es überall in Europa recht populistische Parteien gebe, die eine Politik entwickelten, die man als autoritär klassifiziere. Die Pandemie habe möglicherweise noch zu einer Verstärkung dieser Tendenz geführt. Die Europäische Union sehe sich deshalb vor der Verpflichtung, ihre Werte geltend zu machen, so Reynders.
Boris Schmidt