Wenn es in Paris regnet, dann tröpfelt es in Brüssel. Diese Feststellung hat fast schon den Rang einer Bauernregel. Frankophone Politiker lassen sich immer wieder gerne von französischen Entscheidungen inspirieren, wobei die Flamen freilich genauso häufig nach Norden in die Niederlande schauen.
In Frankreich jedenfalls gilt jetzt der Corona-Pass. Heißt: In Restaurants, Cafés oder im Fernverkehr muss ein Nachweis gezeigt werden über eine vollständige Impfung, eine Genesung oder einen negativen Test. In einem Land, in dem die Impfskepsis besonders weit verbreitet ist, wird das für viele schnell zum Problem. Und, wer nicht allzu weit von der Grenze wohnt, der kommt eben nach Belgien, wenn er im Café ein Bier trinken oder in einem Restaurant was essen will. Und deren gibt es viele. Die RTBF musste in Mons nicht lange nach Franzosen suchen: "Hier braucht man keinen Corona-Pass", "es ist einfacher", "in Belgien wird das lockerer gehandhabt", sagen sie.
Wobei das nicht so bleiben muss. Zwar ist die Rue de la Loi gerade im Urlaubsmodus. In den nächsten Wochen wird sich da wohl nichts Neues ergeben. Unter Wissenschaftlern wird aber schon eifrig über den anstehenden Herbst diskutiert. Denn darum geht es: um den Herbst. Das Virus folgt einem saisonalen Zyklus, sagte in der RTBF Muriel Moser, Immunologin an der Freien Universität Brüssel. Im Herbst werden sich die Ansteckungen wieder häufen, das wissen wir. Wenn bis dahin die Impfquote nicht nochmal signifikant gestiegen ist, auf mindestens 80 Prozent, 90 Prozent wäre noch besser, dann wird man über einen Corona-Pass nachdenken müssen.
Das ist also die rein sanitäre, epidemiologische Sicht. Doch wäre es auch moralisch-ethisch vertretbar, Menschen gegebenenfalls den Zugang etwa zu einem Restaurant zu verwehren? Florence Caeymaex, die Vizepräsidentin des Beratenden Bioethik-Ausschusses, hat da keine grundlegenden Bedenken, wobei sie die Argumentation aber gewissermaßen umdreht: Ein Corona-Pass sei prinzipiell akzeptabel, aber nur, wenn es die epidemiologische Situation verlange.
Dennoch, das heißt, was es heißt: Der Corona-Pass ist nicht grundsätzlich vom Tisch, zumindest nicht unter Wissenschaftlern. Aber klar: Am Ende entscheidet natürlich die Politik.
Doch, wenn man nochmal nach Frankreich schaut: Präsident Emmanuel Macron hat ja neben dem Corona-Pass auch eine Impfpflicht für Pflegekräfte eingeführt. Diese Diskussion wird seit einigen Wochen auch in Belgien schon ziemlich lebhaft geführt. Dies vor allem wegen der Situation in Brüssel, wo in einigen Einrichtungen gerade mal die Hälfte des Personals geimpft ist. Für die Immunologin Muriel Moser gibt's kein Vertun: Wenn die Impfquote beim Pflegepersonal zu niedrig ist, dann sei sie mit einer Impfpflicht einverstanden. Eben angesichts des Profils der Menschen, um die sich dort gekümmert wird.
Der Beratende Bioethik-Ausschuss sieht das etwas nuancierter. Auf der einen Seite habe sie es fast schon als unvorsichtig empfunden, dass die Regierung im Dezember versprochen habe, dass man die Impfung immer von der Zustimmung des Betreffenden abhängig machen wolle, sagte Vizepräsidentin Florence Caeymaex in der RTBF. Natürlich gehört das in einer Normalsituation zu den Grundrechten. Im vorliegenden Fall habe man die Diskussion über eine mögliche Impfpflicht in gewissen Bereichen aber dadurch erstmal vollends abgewürgt.
Denn man müsse auf jeden Fall breit darüber diskutieren, bevor man eine solche Maßnahme trifft, ist Florence Caeymaex überzeugt. Prinzipiell finde sie eine Impfpflicht in gewissen Bereichen nicht grundsätzlich illegitim. Nur sollte man es nicht dabei belassen, das als Vorwand zu nehmen, um nicht mehr zu diskutieren oder zu versuchen, die Menschen zu überzeugen.
Davon abgesehen, sagt die Vizepräsidentin des Beratenden Bioethik-Ausschusses: Wer Pflicht sagt, der muss sich auch die Mittel geben, das durchzusetzen. In Frankreich geht man ja so weit, dass Pflegekräften ein faktisches Berufsverbot droht, wenn sie sich nicht impfen lassen. "Das geht schon weit", sagt Florence Caeymaex, "das kann man nicht einfach so stehen lassen".
Roger Pint