Die Stimmung der Abgeordneten in der Kammer war am Donnerstag durch die Bank sehr emotional und aufgewühlt. Betroffenheit, Abscheu und Wut - das waren die vorherrschenden Gefühle. Was angesichts des Geschehenen wohl mehr als nachvollziehbar ist. Denn natürlich sind die Abgeordneten nicht nur Politiker, sondern auch Menschen und oft Eltern.
Unabhängig von der Parteizugehörigkeit haben sich die Wortmeldungen und Forderungen in Richtung von Premierminister Alexander De Croo und Justizminister Vincent Van Quickenborne (beide Open VLD) auch inhaltlich sehr geähnelt: Demut und Beileid für die Eltern und anderen Betroffenen. Schmerz darüber, dass die Tat und ihre Folgen nicht verhindert werden konnten. Die erschreckenden Statistiken über sexuelle Gewalt in Belgien und wie wenig erfolgreich der Kampf dagegen oft scheint, gerade für die Opfer dieser Verbrechen. Die erschreckend niedrige Zahl von Fällen, die überhaupt erst zur Anzeige gebracht werden; wie viele dieser Prozesse dann eingestellt werden; wie lächerlich niedrig Strafen ausfallen, wenn es sie denn überhaupt gibt. Der Kreuzweg, den die Opfer vonseiten des Staates beziehungsweise der Behörden und Justiz oft durchleiden müssen - aber auch leider oft genug Schuldzuweisungen vonseiten der Gesellschaft und der eigenen Angehörigen. Und vor allem immer wieder die Rolle, die der technische Fortschritt bei diesen Verbrechen spielt. Denn durch die Verbreitung von Bild- und Videoaufnahmen der Taten werden die Opfer sexueller Gewalt oft noch einmal zu Opfern. Die Internetriesen und die Betreiber der sogenannten Sozialen Medien scheinen wenig gegen die Verbreitung solchen Materials zu tun.
Mindestens ein Viertel aller Opfer minderjährig
Jede einzelne der Fragen der Abgeordneten zeige, wie persönlich betroffen alle seien von der Tat und der Häufigkeit solcher Ereignisse, so Premierminister De Croo. Die Zahlen seien schlicht unfassbar. Eine von drei Frauen werde in ihrem Leben mit sexueller Gewalt konfrontiert. Es sei schwierig fassbar, dass solche Zustände die Realität seien für einen so großen Teil der Gesellschaft. Mindestens ein Viertel aller Opfer sei minderjährig, unterstrich De Croo.
Schon vor der jetzigen Gesundheitskrise habe er die Gewalt gegen Frauen, die sexuelle Gewalt als Pandemie bezeichnet. Das sei eine Pandemie, gegen die man genauso energisch und kraftvoll kämpfen müsse. Selbst in unserer so fortschrittlichen und freien Gesellschaft würden Frauen noch viel zu oft Rollenbilder aufgezwungen. Das sei oft genug die Ursache für Probleme, und auch für Schuldzuweisungen nach Verbrechen.
Es beginne nur mit Worten, erinnerte der Premier. Aber diese Worte führten so oft zu grauenhaften Taten. Dennoch seien Worte für ihn auch der Anfang einer Lösung. Denn Worte und Gespräche mit den Söhnen, den Kindern, miteinander seien das, woran es in der Gesellschaft oft mangele. Worte und Gespräche seien auch das, was Opfer sexueller Gewalt selbst mit ihren Nächsten oft genug nicht führen könnten.
Die traurige Wahrheit hinter einem Großteil sexueller Gewalt sei eben, dass die Angriffe meist nicht auf einem schlecht beleuchteten Parkplatz durch einen Unbekannten geschehen. Der gefährlichste Ort für eine Frau sei oft die eigene Wohnung, die Täter seien dem Opfer in zwei von drei Fällen bekannt. Sehr häufig handele es sich sogar um einen Partner oder Ex-Partner.
Aktionsplan
Das Institut für Volksgesundheit habe festgestellt, dass sich die Fälle häuslicher Gewalt seit 2018 versechsfacht hätten. Diese Verbrechen geschähen so oft in unserer unmittelbaren Umgebung, dass wir alle zusammen mehr dagegen tun könnten, so De Croo. Beispielsweise, indem wir wachsamer und sensibilisierter seien. Indem wir schneller die Polizei riefen, damit die eingreifen könne.
Als die Föderalregierung die Amtsgeschäfte übernommen habe, sei beschlossen worden drei Pflegezentren zur Betreuung nach sexueller Gewalt einzurichten. Im nächsten Jahr sollten vier weitere hinzukommen. Man habe auch Hand in Hand mit den Gemeinschaften zusammengearbeitet, um Mittel für Zufluchtsorte für Opfer von Gewalt bereitzustellen. Justizminister Van Quickenborne führte den Aktionsplan der Regierung zum Kampf gegen sexuelle Gewalt weiter aus. So würden die entsprechenden Gesetze überarbeitet, es sollten viel höhere Strafen kommen, die Definition einer Vergewaltigung solle eindeutiger und klarer werden.
Auch bei den Punkten Beweissicherung sei man dabei, nachzubessern, um mehr Verurteilungen zu erreichen. Und schließlich solle auch deutlich mehr getan werden, damit Aufnahmen sexueller Gewalt schneller aus den Sozialen Medien entfernt beziehungsweise gar nicht erst verbreitet werden könnten, so Justizminister Van Quickenborne.
Boris Schmidt
Was muss eigentlich noch alles passieren, dass Vergewaltigungen juristisch nicht mehr als Kavaliersdelikt behandelt werden? Solche Schandtaten ausgeführt von erbärmlichen Feiglingen dürften in einer aufgeklärten Gesellschaft - dazu in » Friedenszeiten « - eigentlich gar nicht mehr existieren. Was sind das für « Minderjährige » ? Degeneriert unsere Gesellschaft nun vollkommen oder war / ist das normal ... nur wurde / wird es nie publik gemacht ? Ich bezweifle, dass Psychologen und Psychater solche unmenschliche Wesen überhaupt beeinschlussen könnten.
Es fällt einem immer schwerer seine positive Lebenseinstellung zu bewahren. Mein herzlichstes Beileid für die Familie des jungen Mädchens.
Die Aktionspläne der Regierung gehen also endlich in die richtige Richtung.
Schön und gut, wenn Pflegezentren eingerichtet werden, um die Opfer hinterher zu betreuen. Aber bei der Debatte fehlt die vorbeugende Komponente:
Zum einen sollten junge (und auch weniger junge) Männer darauf aufmerksam gemacht werden, dass erzwungener Sex alles andere als ein Kavaliersdelikt ist und Mädchen anders als Pornodarstellerinnen ticken, zum andern sollten verstärkt Selbstverteidigungskurse angeboten werden, damit junge Frauen lernen, wohin sie treten und schlagen sollen!
Es ist nicht die Vergewaltigung, die das Opfer so schrecklich trifft - es ist die Ohnmacht, die uns Frauen immer wieder klar macht, wo "unser Platz in dieser Gesellschaft" ist.
Wir können uns anstregen, wir können uns bilden, wir können gesellschaftlich aufstreben - und dann kann uns jemand "sexualisierte Schimpfnahmen" geben, uns betatschen, sogar uns Gewalt antun - ohne das es sich für diejenigen rächt. Im Gegensatz - es gibt Ablaus für die Täter.
Ich bin beruflich in einer fast reinen Männerdomäne tätig und die Erlebnisse auch bei Kolleginnen, könnte ich aufreihen.
Die Antwort der Polizei: Beweise (OK, Mann macht das in der Regel, wenn man sich unbeobachtet fühlt oder hat gute Kumpel, die selbstverständlich nix gesehen haben)
Anzeige wird ungerne aufgenommen, und wird sie das doch, wird das Verfahren eingestellt.
Wer soll denn dann noch gerne zur Polizei gehen?
Der Erfolg: Die Täter wissen sich sicher und werden immer dreister.
@Yves Tychon: Ihr Kommentar ist sehr einseitig, weil er den Eindruck gibt, dass Männer Täter und Frauen Opfer sind.
Es gibt auch männliche Opfer. Und es gibt auch weibliche Täter.
@ André Schmidt: Das bestreite ich keineswegs. Blickt man allerdings auf die Belegung der Justizvollzugsanstalten, stellt man schon fest, dass es durch die Bank mehr männliche als weibliche Insassen gibt, vermutlich besonders unter Sexualstraftätern. Hoffentlich nimmt mir niemand übel, dass ich das Gendersternchen weggelassen habe!