"Eine Mannschaft von elf Millionen Belgiern. Zusammen gegen das Coronavirus". Selten wohl war die Kampagne der föderalen Behörden so weit von der gelebten Realität entfernt wie jetzt. "Von wegen 'Tous ensemble'", schrieb am Donnerstag auch schon die Zeitung Het Laatste Nieuws. Wir sehen nur noch das Gegenteil: Jeder verteidigt nur noch seine Interessen.
Das krasseste Beispiel, das war wohl die Reaktion von MR-Chef Georges-Louis Bouchez. Noch während der Pressekonferenz des Konzertierungsausschusses setzte der einen doch bemerkenswerten Tweet ab: "Dieser neue Lockdown ist natürlich ein Scheitern in dreifacher Hinsicht", schrieb Bouchez und füge hinzu: "Die Last wird wieder einmal auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt".
"Aufgabe der Opposition ist es, Opposition zu führen", reagierte denn auch sarkastisch der Virologe Marc Van Ranst. Denn, der Punkt ist natürlich: Georges-Louis Bouchez' MR sitzt - abgesehen von Brüssel - überall mit in der Regierung. Der eine oder andere würde das wohl einen "Dolchstoß" nennen.
Bouchez war aber nicht der einzige. Auch der flämische Unterrichtsminister Ben Weyts schimpfte nach Ablauf des Konzertierungsausschusses wie ein Rohrspatz. Der N-VA-Politiker kritisierte mit deutlichen Worten die beschlossene Schließung der Schulen. Das Unterrichtswesen habe bislang Priorität genossen. Jetzt stelle man das offensichtlich infrage. Und er habe wirklich ein Problem mit der Feststellung, dass die Schulen zugemacht würden, während Ikea offen bleiben dürfe. "Das ist nicht mein Bild einer Gesellschaft", sagte Weyts in der VRT.
Auch Ben Weyts schien vergessen zu haben, dass sein Parteifreund Jan Jambon in seiner Eigenschaft als flämischer Ministerpräsident mit am Tisch gesessen und die Entscheidung also mitgetragen hatte. "Das ist auch nicht mein Bild einer Gesellschaft", reagierte später der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke. Er habe natürlich Respekt vor dem Einsatz von Ben Weyts für sein Ressort. Und, natürlich genießt das Unterrichtswesen Priorität. Nur muss man irgendwann den Realitäten ins Auge blicken und einsehen, dass man an Grenzen stößt.
Konkret: Jeden Tag haben wir mehr infizierte Kinder gesehen, die dann ihrerseits ihre Eltern angesteckt haben. Und die können wegen der britischen Variante auch ernsthaft krank werden. Nur: Es werden ja doch nicht alle Schulen geschlossen. Die Kindergärten, die sollen offen bleiben, wie Premierminister Alexander De Croo am Mittwoch betonte.
"Wie bitte?", reagierten da aber die betroffenen Lehrkräfte und, stellvertretend, dann auch die Gewerkschaften. Wenn die Lage doch so gefährlich sei, warum müsse sich das Personal in den Kindergärten dann weiter dem Risiko aussetzen?
"Mal ehrlich: Mehr und engerer Kontakt als in Kindergärten geht doch gar nicht", sagte eine Kindergärtnerin aus Charleroi in der RTBF. "Wir müssen einigen Kindern die Windeln wechseln, wir putzen ihnen die Nase, wir nehmen sie auf den Arm. Wieso sollen ausgerechnet wir offen bleiben?" Das Problem sei auch, dass viele Kleinkinder asymptomatisch seien. Insofern wisse man eigentlich gar nicht, wie groß das Risiko genau ist.
Zur Begründung war da auch der Begriff "Kinderbetreuung" gefallen, in dem Sinne, dass man die Eltern nicht vor unlösbare Probleme stellen wollte. Dieses Wort hat das Fass dann endgültig zum Überlaufen gebracht. "Wir sind doch nicht nur Tagesmütter", sagte eine Kindergärtnerin aus Namur.
In Flandern hat die sozialistische Gewerkschaft CGSP schon eine Streikankündigung hinterlegt. "Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht gezwungen werden, sich einer Gefahr auszusetzen", sagte Nancy Libert von der CGSP in der VRT.
Im frankophonen Landesteil sind die Gewerkschaften nicht minder wütend und drohen ebenfalls mit Streik. Doch haben sie am Donnerstag Rückendeckung von höchster Stelle bekommen: Der Ministerpräsident der Französischen Gemeinschaft, Pierre-Yves Jeholet, distanzierte sich von der Entscheidung. Flandern habe darauf bestanden, dass sogar die Grundschulen offen bleiben sollten. Die Kindergärten, die seien dann eben ein typisch belgischer Kompromiss.
Umso seltsamer sei es denn auch, wenn ausgerechnet Ben Weyts jetzt die Eltern aufruft, ihre Kinder möglichst nicht zum Kindergarten zu bringen, sagte Jeholet. Es könne jedenfalls durchaus sein, dass man im frankophonen Landesteil die Kindergärten dennoch schließt.
Was bleibt, das ist eine enorme Kakophonie. Und das ist eigentlich das letzte, was man jetzt gebrauchen kann.
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