Die Szenen aus Lüttich kann man nicht anders als erschreckend in ihrer Gewalt bezeichnen. Bürgerkriegsähnlich, Stadtguerilla, Krieg auf den Straßen, Randale um der Randale willen, so oder ähnlich ist auch wenig überraschend der Tenor in den Medien dazu.
Die Verantwortlichen, Bewohner und Geschäftsleute hat das Ganze vor allem ratlos zurückgelassen, wütend und traurig - und in Angst. Das gilt im Übrigen auch für die friedlichen Demonstranten, die ja eigentlich nur für "Black Lives Matter" protestieren wollten. Das ist das Motto einer ursprünglich amerikanischen Bewegung, die aber spätestens seit dem schockierenden Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis 2020 weltweit Nachahmer gefunden hat.
Vereinfacht gesagt richtet sich der Aktivismus gegen Gewalt gegen Menschen mit anderer Hautfarbe und Rassismus - auch und insbesondere, wenn die von der Polizei ausgeht. Das ist auch der Hintergrund, vor dem die Demonstration von etwa 100 Menschen in Lüttich geplant war: nämlich als Reaktion auf die Festnahme einer Frau mit kongolesischen Wurzeln, bei der die Polizeibeamten möglicherweise unverhältnismäßig Gewalt angewendet haben. Geklärt sind die genaueren Umstände aber noch nicht.
Was aber wohl feststeht, ist, dass 200 bis 300 weitere Personen am Rand der "Black Lives Matter"-Demonstration quasi aus dem Nichts zunächst einen Polizisten von seinem Motorrad gezerrt und übel zugerichtet haben und danach systematisch zu Zerstörungen und Plünderungen übergegangen sind.
Nach Aussagen der Polizei stammen die meisten der teils minderjährigen Randalierer aus Lüttich und Brüssel. Sie seien gekommen, um Polizisten anzugreifen und zu plündern. Und sie sollen sich dazu schon vorab in den Sozialen Netzwerken abgesprochen haben. Vorsätzlich, gut vorbereitet und gezielt seien die Angriffe gewesen, wird berichtet. Insgesamt 36 Polizisten wurden verletzt, neun davon mussten ins Krankenhaus.
Nicht zu rechtfertigen sei diese Gewalt, betonte der Soziologe Marco Martiniello von der Universität Lüttich. Aber man müsse dennoch die Hintergründe dieser Taten beleuchten. Seiner Meinung greife es schlicht zu kurz, wenn man Ausschreitungen wie in Lüttich einfach als sinnlose Gewalt von Menschen mit afrikanischem Hintergrund, Plünderern und Banden von Gesetzlosen darstelle. Verstehen und erklären sei aber nicht das Gleiche wie entschuldigen und sicher auch nicht wie rechtfertigen, betonte der Soziologe in der RTBF.
Dennoch müsse man diese jungen Menschen als Produkt unserer Gesellschaft anerkennen. Einer Gesellschaft, die immer ungleicher und ungerechter werde, in der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Herkunft an der Tagesordnung sei, die diesen Menschen wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft biete.
Gerade ein Teil der jungen Menschen habe das Gefühl, dass niemand sie verstehe und niemand ihnen zuhöre. All das führe dazu, dass sie sich von der Gesellschaft verstoßen und ausgegrenzt fühlten. Manche versuchten, sich dem durch die Flucht in Drogen oder sogar durch Selbstmord zu entziehen. Und andere griffen zu Gewalt als Ventil.
Zu den ganzen existierenden Problemen sei dann noch die Coronakrise gekommen. Und so offensichtlich es klinge, aber man müsse es trotzdem hervorheben, so Martiniello. Die Auswirkungen der Gesundheitskrise seien nicht die gleichen für jemanden, der in einer Villa mit Schwimmbad lebe, wie für jemanden, der mit mehreren anderen in einer 20-Quadratmeter-Wohnung leben müsse.
Die Pandemie habe bestimmte Bevölkerungsgruppen auch viel härter getroffen als andere. Viele hätten ihre Jobs verloren, keine neuen gefunden und wüssten wenig Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen, gerade unter Quarantäne- und Lockdown-Bedingungen. Das könne man bei manchen durchaus als die letzten Tropfen betrachten, die ein schon ziemlich volles Fass zum Überlaufen bringen könnten.
Trotzdem könne man damit aber auch nicht alles erklären, was nicht nur in Lüttich, sondern an vielen Orten in Europa passiere und darüber hinaus, unterstrich der Soziologe.
Boris Schmidt