"Eine Impfung, das ist nichts für morgen. Erst mal müssen wir durch die derzeitige Krise kommen." Der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke wollte in der VRT-Talkshow 'De afspraak' offensichtlich die Erwartungen bremsen.
Erstens sprechen wir hier lediglich von einer Ankündigung eines Pharmakonzerns, sagte Vandenbroucke. Pfizer sagt, dass sein Impfstoff zu 90 Prozent wirksam ist. In Ordnung. Das ist aber noch keine unabhängige Studie. Natürlich gebe es keinen Grund, die Info infrage zu stellen, aber dennoch.
Impfstoff allein noch keine Lösung des Problems
Zweitens: Pfizer will bis Ende nächsten Jahres 1,3 Milliarden Impfdosen produzieren. Zwei Spritzen sind nötig, das ergibt also 650 Millionen. Nun, auf diesem Planeten sind wir zehn Mal zahlreicher", so Vandenbroucke. Heißt: Es ist fraglich, wann, wo, wieviel Impfstoff zur Verfügung stehen wird.
Hinzu kommen diverse logistische Herausforderungen. Das alles nur um zu sagen: Unsere Probleme sind mit Sicherheit nicht morgen gelöst. "Es ist eine gute Neuigkeit, die bringt uns aber nicht über den Winter", sagt Vandenbroucke.
Vandenbroucke ist ganz klar fokussiert auf das Hier und Jetzt. Das Land befindet sich nach wie vor im verschärften Lockdown. Die Situation in den Krankenhäusern ist weiterhin sehr angespannt. Diese Phase müssen wir hinter uns lassen, das hat oberste Priorität. Stellt sich allerdings dieselbe Frage wie beim letzten Mal, die nach der Exitstrategie.
In diesem Zusammenhang hat Frank Vandenbroucke gerade in einem zentralen Punkt seine Meinung geändert. Das Barometer, an dem seit Wochen und Monaten gearbeitet wird, nun, das kommt erst mal nicht. Zumindest nicht im Rahmen der Exitstrategie.
Andere Exitstrategie als im Sommer
Warum? "Weil wir zu der Einsicht gelangt sind, dass wir nicht lockern können, wenn wir noch nicht die Gefahrenzone verlassen haben", sagt Vandenbroucke. "Diesen Fehler haben wir im Sommer gemacht. Mit dem Barometer sähe es so aus: Die Zahlen verbessern sich und erreichen einen bestimmten Punkt: OK, wir lockern ein bisschen. Dann wird die nächste Schwelle unterschritten: Wieder eine Lockerung. Das geht so nicht!", sagt Vandenbroucke. "Wir müssen erst einen sicheren Hafen erreicht haben":
Nur: Was ist ein sicherer Hafen? Da gibt es nicht einen, sondern mehrere Parameter, sagt Vandenbroucke. Erst mal schaut man natürlich auf die Zahl der Neuinfektionen. Das Virus darf so wenig wie möglich zirkulieren. Daneben müssen aber auch die Deiche stark genug sein. Erst dann kann man lockern.
Aufgedröselt bedeutet das: Erstens muss also ein kritischer Wert in Bezug auf die Zahl der Neuinfektionen festgelegt werden. Im Raum steht da derzeit die Zahl 50. 50 Neuansteckungen pro Tag. Diese Zahl haben wir im Sommer nicht mal ansatzweise erreicht.
Zweitens: Was Vandenbroucke mit Deichen meint, das sind vor allem die Teststrategie und das Tracing. Beides muss funktionieren, um gewährleisten zu können, dass der sichere Hafen auch sicher bleibt. Wie die Kriterien konkret aussehen sollen, das müssen jetzt Experten erarbeiten, sagt Vandenbroucke.
Aber ob man nun 50 Neuinfektionen pro Tag als Schwellenwert festlegt, oder doch 60, 70 oder gar 100, das ändert nicht sehr viel, zumindest, wenn man auf die heutigen Zahlen schaut, sagt Vandenbroucke. Kurz und knapp: Im Moment liegen wir zehn Mal höher als jeder realistische Grenzwert.
Insofern - und das liest und hört man immer wieder von Politikern und Virologen - kann man davon ausgehen, dass Weihnachten höchstwahrscheinlich in diesem Jahr leider sehr "intim" ausfallen dürfte. Und auch Vandenbroucke ist pessimistisch: Wir werden vor Weihnachten den sicheren Hafen nicht erreichen. "Daran besteht angesichts der heutigen Zahlen kein Zweifel":
Eine Obergrenze für Neuinfektionen, wie wir sie im Sommer nie erreicht haben - dies als Grundbedingung für Lockerungen, das lässt nur einen Schluss zu, und so steht es auch auf der Titelseite von Le Soir: Die Exitstrategie wird wesentlich strenger sein als beim ersten Mal. Weil die Regierung auch in erster Linie auf die Gesundheitsexperten hören will, anders also, wie die Vorgängerequipe.
Frank Vandenbroucke drückt es so aus: Wenn ich Zahnschmerzen habe, dann gehe ich zum Zahnarzt. Wenn ich ein Problem mit einem Virus oder einer Epidemie habe, dann gehe ich zum Virologen bzw. Epidemiologen.
Roger Pint