Allen Vorhersagen zum Trotz ist die "blaue", also demokratische Welle bei der US-Wahl ausgeblieben. Und je mehr Ergebnisse bekanntgegeben wurden, desto deutlicher wurde, dass Trump genug Unterstützer hat, um den Ausgang knapp werden zu lassen. Oben drauf kam dann der Versuch Trumps, sich vorzeitig selbst zum Sieger zu krönen. Angesichts der noch laufenden Stimmenzählung und der Drohungen beider Seiten, die Gerichte einzuschalten, wird es wohl auch noch eine Weile spannend bleiben.
Dieses Kopf-an-Kopf-Rennen hat auch Didier Reynders, seines Zeichens EU-Justizkommissar und davor lange belgischer Außenminister, überrascht. Auch er habe den Umfragen vertraut, gab er am Donnerstagmorgen in der RTBF zu.
Vielleicht sei das Problem aber, dass insbesondere europäische Medien die Lage und Stimmung in den USA nicht richtig einschätzen würden. Gerade was die sehr großen politischen Unterschiede beispielsweise zwischen ländlichen Regionen und Städten anginge, könne das ein Problem sein. Das Land sei tief gespalten. Und auch nach vier Jahren im Weißen Haus gebe es noch immer sehr viel Unterstützung für Trump.
Was ihn aber bei dieser Wahl irritiere, seien die jüngsten Vorgänge. Die Wahlen müssten innerhalb der geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen zu Ende gehen. Und man müsse dabei vor allem auch die Justiz respektieren, die über den korrekten Ablauf wachen müsse. Wie wichtig ein Rechtsstaat und eine unabhängige Justiz seien, sehe man ja auch in Europa, Stichwort Ungarn und Polen. Er hoffe, dass es in den Vereinigten Staaten jetzt friedlich bleiben werde und dass alles im Rahmen des Rechtsstaates geregelt werde.
Unabhängig davon, wer am Ende im Weißen Haus sitzen wird, wird sich Europa nach Ansicht von Reynders aber auch in Zukunft darauf einstellen müssen, dass lange als stabil und permanent betrachtete Beziehungen und Abkommen in Frage gestellt würden. Das habe es in den vergangenen vier Jahren Trump ja öfter gegeben. Er hoffe aber, dass dies in den nächsten Jahren nicht ganz so extrem sein werde.
Aber Europa müsse lernen, damit umzugehen und seinen eigenen Weg gehen, auch bezüglich der Geopolitik. Auch wenn das durchaus im Schulterschluss mit Partnern sein könne. Der Rückzug Amerikas von seiner alten Rolle als Weltpolizei und die Veränderung der globalen Lage hin zu einer multipolaren Welt, hätten ja auch nicht erst mit Trump begonnen. Schon Obama habe die Europäer aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen. Europa müsse auch lernen, ohne die USA mit aufstrebenden und teils schwierigen Mächten wie China, Russland oder Indien klarzukommen.
Und natürlich stellten die langfristigen Veränderungen in der amerikanischen Politik ein gewisses Risiko dar. Aber eben vor allem auch eine Gelegenheit für die Europäer, in bestimmten Gebieten selbst die Führung zu übernehmen. Sei es in der Klimapolitik, bei der Terrorismusbekämpfung und der inneren Sicherheit oder auch mit einem stärkeren Engagement in den Konfliktgebieten der europäischen Peripherie, um nur einige zu nennen.
Man müsse sich außerdem auch vor Augen halten, dass selbst mit Biden als neuem Präsidenten der amerikanische Kongress weiterhin von den Republikanern beherrscht sein werde, die damit viel Einfluss auch auf die internationale Politik behalten würden. Nichtsdestotrotz erwarte er, dass mit Biden die Beziehungen und vor allem der Umgangston miteinander ein deutlich anderer sein werde. Und dass vielleicht Zusammenarbeit und Argumente statt Konfrontation wieder mehr in den Vordergrund rücken könnten. Die Lage mit Biden würde jedenfalls eine andere sein, als mit Trump, so Reynders. Wobei anders eben nicht automatisch leichter heißen müsse.
Boris Schmidt